Das Baltikum ist ein dreisprachiger Geschichtenerzähler, die Bewohner der jungen Ostseerepubliken mögen es gar nicht so sehr, unter einen Hut gebracht zu werden. Die Esten fühlen sich Skandinavien zugewandt, die Litauer verbindet Geschichte und Kultur eher mit Polen. Und Lettland liegt östlich-melancholisch inmitten.

Wanda, der Vorname verrät schon die polnischen Wurzeln, liebt es, ihre Gäste in Vilnius in Empfang zu nehmen und sich mit ihnen 1500 Kilometer bis Tallinn hinaufzuarbeiten. 1979 hat sie ihre erste Gruppe geführt, Deutsch war immer ihr Lieblingsfach, sie parliert aber auch noch in Polnisch, Englisch und Russisch. Wanda redet wie eine „Italienerin“ mit Händen und Füßen, das spürt man zuweilen im Kopfhörer. So stellt sie ab und an die Gewissenfrage: „Mit oder ohne Gerät?“

Die überzeugte Litauerin, die stets mit gelbem Knirps anzutreffen ist, dem man ansieht, dass er schon einige Stürme hinter sich hat, kommt in Vilnius mit dem Prädikatverteilen nicht nach: „Rom des Nordens, 2009 erste Kulturhauptstadt des Baltikums, Unesco-Weltkulturerbe.“ Berauschend barock und sehr katholisch obendrein: In der größten Altstadt Osteuropas buhlen 42 Kirchen, prächtige Paläste und kunstvoll restaurierte Bürgerhäuser um die Gunst der Betrachter.

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Eine halbe Autostunde entfernt haben Kartografen 1989 bei einer Neuvermessung den geografischen Mittelpunkt Europas ausgemacht. Ein Beleg, wie sehr der Eiserne Vorhang den Blickwinkel verfälschte. Ein Freilichtmuseum mit zeitgenössischer Kunst markiert nun den bemerkenswerten Ort.

Ehemalige und geheime Hauptstadt Litauens

Trakai, einst Hauptstadt des litauischen Reiches, hat dank der Wasserburg aus dem Mittelalter ihre Anziehungskraft nicht verloren. Inmitten einer ausgedehnten Seenlandschaft zieht die zum Bollwerk ausgebaute Fürstenresidenz Gäste aus aller Herren Länder an, die asiatischen sind die flinksten.

Kaunas hingegen, zweitgrößte Stadt Litauens, sieht sich auch heute gerne als heimliche Hauptstadt. Die gewaltige Kathedrale St. Peter und Paul kann mit dem spätbarocken Gegenstück in Vilnius allemal mithalten. Die Rekonstruktion der wehrhaften Burg ist noch im Gange. An berühmten Söhnen mangelt es auch nicht. Ein Riesenwandbild erinnert an Jurgis Maèider, Begründer der Kunstbewegung Fluxus, er stammt von hier. Beim Stadtrundgang mahnt Wanda: „Aufpassen auf die Steine, sie sind individuell.“ Welch herrliche Beschreibung der mitgenommenen Pflasterung, die Zeugnis ablegt, dass noch viel zu tun ist, denn im Jahr 2022 wird Kaunas in den Rang einer Kulturhauptstadt Europas gehoben.

Während der Busfahrt durchs unendliche Grün Litauens, wo Störche gemeinsam mit schwarz-weiß gefleckten Kühen zwischen Wiesensalbei und anderen schmackhaften Gewächsen weiden, liest Wanda Lyrik. Ein andermal hat sie Lieder eines Kinderchores ausgewählt. Nirgendwo sonst in Europa gibt es mehr Volkslieder als im Baltikum. Singend haben die Balten, allen voran die Esten, auch die russischen Fesseln abgeschüttelt – „Mein Vaterland ist meine Liebe“.

Am Berg der Kreuze ist Christus millionenfach für die Freiheit von Litauen gestorben. Die Sowjets konnten noch so viele Planierraupen schicken, im Handumdrehen sah man den Berg erneut vor lauter Kreuzen nicht mehr. Ein Pilgerort der ganz besonderen Art mit Tausenden und Abertausenden Symbolen großer Gläubigkeit.

Früh nach Hause gehen bringt Unglück

Über der Grenze in Lettland grüßt Schloss Rundale, die beinamenverliebten Balten nennen das Barockjuwel „Versailles des Baltikums“. Hier spielt es sich auch heute noch ab, bei Staatsempfängen ebenso wie bei Hochzeitsgesellschaften. Als duftende Draufgabe entpuppt sich der Schlossgarten zur Rosenblüte.

Glücklich, wer just in der Johannisnacht, dem 23. Juni, in der Hauptstadt Riga bei den Blumenkindern des Baltikums zu Gast ist. Es wird bis zum Morgengrauen in der herausgeputzten Altstadt gefiedelt, getanzt und gesungen, denn frühzeitiges Heimgehen würde Unglück bedeuten. Wer ist da nicht gerne abergläubisch?

Man sollte halt am nächsten Morgen wieder die Augen aufbringen. Eine Operette in Stein wird das Jugendstilviertel rund um die Alberta iela genannt, wo sich Architekten wie Michail Eisenstein vor 100 Jahren unter dem Motto „der Altstadt die Macht, dem Jugendstil die Pracht“ in euphorischer Romantik übertrafen. Die rund 800 Jugendstilfassaden der Neustadt sind einzigartig in Europa. Die frühzeitig von den Kreuzfahrtschiffen entlassenen Touristenmassen nicht, in Tallinn kommt es zum Dacapo.

Das faszinierende Wolkentheater regt Wanda zu ihren eigenen Prognosen an: „Man weiß nie, wie das Wetter wird, der Bericht ist das eine, das Wetter das andere.“ Noch eine Wettererfahrung: Was für die Balten heiß bedeutet, liegt für uns noch im äußerst kühlen Wahrnehmungsbereich.
Allen drei Ostseerepubliken ist gemeinsam, dass sie ihre kostbarsten Refugien als Nationalparks schützen, auch ein Symbol tiefer baltischer Naturverehrung.

Im Herzen des wildromantischen Gauja-Nationalparks liegt eine der ältesten Städte Lettlands, Cesis, das einstige Wenden. Der Fluss Gauja sorgt für tiefe Einschnitte in den Sandsteinfelsen und darüber thront die Bischofsburg Turaida, seit 1953 wieder detailgetreu aufgebaut. Nur noch übertroffen von der atemberaubenden Aussicht.

Der Lahemaa-Nationalpark am Finnischen Meerbusen verblüfft mit Sandstränden und Buchten, so weit das Auge reicht. Das 1971 unter Schutz gestellte Gebiet verdankt seinen Artenreichtum auch dem Umstand, dass es zu Sowjetzeiten nur mit Sondergenehmigung Zutritt gab. Und mitten drinnen ein bauliches Juwel, der einstige Herrensitz Palmse dient als Besucher- und Verwaltungszentrum für den Nationalpark.

Ein merkwürdiges Land

Den fulminanten Schlusspunkt der Baltikumreise setzt zweifellos Tallinn, die als Unesco-Weltkulturerbe geadelte Altstadt bezirzt mit mittelalterlichem Charme – 700 Jahre Kulturgeschichte zwischen „langem Hermann und dicker Margarethe“ meisterhaft restauriert. Es ist schon ein besonderer Augenblick, wenn die untergehende Sonne den Domberg in gleißendes Gold hüllt, das gotische Rathaus in der Unterstadt lange Schatten wirft und die prächtigen Giebelhäuser ins Mittelalter entführen.


Im einstigen Reval trifft Vergangenheit auf Zukunft. Hier zahlen die Esten ihre Parkgebühren per SMS und wählen ihre Volksvertreter per Internet, lassen sich aber in altehrwürdigen Restaurants von Kellnern im samtenen Wams und Maiden im Lodenmieder bedienen. Und die Ostsee nennen sie das Westmeer. „Ein merkwürdiges Land“ titelte „Der Spiegel“.

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