Napoli“, sagt Marco, „Chaos!“ Dann denkt er kurz nach, der Norditaliener, der Neapel gut kennt, weil er dort einst, als Kind, seinen Vater besucht hat, immer dann, wenn das Schiff des Matrosen, später des Kapitäns der italienischen Marine, längere Zeit im Hafen lag. Im Golf von Neapel, am Vesuv, malerisch umgeben von den Inseln Capri und Ischia.
„Chaos“, sagt Marco noch einmal. Doch dann ändert sich sein Tonfall: „Aber sehr hilfsbereit sind die Menschen dort.“ Mit versteckter Kamera hatte sich ein italienisches TV-Team aufgemacht, um in verschiedenen Städten zu testen, wie sich Zeugen eines inszenierten Unfalls verhalten. In Neapel sind die Leute sofort zusammengerannt. Jeder wollte helfen.
Sehr oft brauchen die Menschen in Neapel aber gar nicht erst zusammenzurennen, weil die meisten von ihnen sowieso schon da sind. Dicht gedrängt leben und jobben sie in der Altstadt der Metropole der Region Kampanien. Als wäre die Zeit in der süditalienischen Stadt in den 1970er-Jahren stehen geblieben, bieten Kleinstunternehmer in engen Gassen Waren und Dienste an.
Fast jeder hat ein Geschäft, eine Werkstatt. Eine Pizzeria wie jene in der Via Toledo, an der es kein Vorbeikommen gibt. Kaum zu glauben, wie gut ein Stück Germteig mit Tomaten, Olivenöl, Mozzarella (di Bufala, versteht sich) und Basilikum riechen und schmecken kann, wenn es etwas länger als eine Minute im fast 500 Grad heißen Holzofen war. Viele machen den Neapolitanern die Pizza nach. Aber an kaum einem Ort gelingt sie so. So wie die, die ein Pizzaiolo Ende des 19. Jahrhunderts erstmals aus dem Ofen zog – belegt in den Nationalfarben, benannt nach Königin Margherita, der Frau von Umberto I. Die Pizza, die als „garantiert traditionelle Spezialität“ unter dem Schutz der EU steht.
Schutz und Schmutz
Apropos Schutz: Schutz und Schmutz sind in der drittgrößten Stadt Italiens nicht immer weit voneinander entfernt: Wer sich dort mit den Falschen anlegt, der läuft Gefahr, dass sein Pozzo, sein Brunnen, vergiftet wird. Doch das ist eine andere Geschichte. Bis ins Camorra-Viertel Forcella gehen wir lieber nicht, als wir die Altstadt von Neapel, das Centro Antico, seit 1995 Weltkulturerbe, auf der Spaccanapoli durchqueren. Die drei Kilometer lange, fast gerade Gasse führt durch den Kern der Stadt. Als Via Pasquale Scura beginnt sie in den Quartieri Spagnoli. Mehrmals ändert sich unterwegs ihr Name. Von Viertel zu Viertel zeigen sich völlig verschiedene Facetten ein und derselben Stadt. Monumental mutet sie auf Höhe der Piazza del Gesù Nuovo an. Zur Einkaufsstraße wird sie in der Via Benedetto Croce.
Pazza, verrückt, ist Neapel. Voll der Musik. Voll der Kuriositäten und der Kulinarik. In dieser Stadt gehe man der Nase nach: Mit dem Kaffee ist es wie mit der Pizza: Der Geschmack übertrifft den Geruch, obwohl das kaum möglich scheint. Wer Süßes mag, das in viel Rum schwimmt, dürfte zu Babà nicht Nein sagen können.
Doch genug der Kalorien. Im süditalienischen Golf riecht es nach mehr. Nach Meer. Nach Hafen. Nach nicht nur ruhmvoller Geschichte. Die Stazione Marittima beispielsweise ist ein Mussolini-Bau. Wuchtig sind die Wehrtürme des Maschio Angioino gegenüber. Umso einladender wirkt das Viertel Santa Lucia mit dem alten Fischerhafen und dem Castel dell’Ovo auf einer Halbinsel im Meer, in dessen Luken Möwen – für Futter – vor dem Vesuv posieren.
Lebenskunst und -kultur
Von dort flanieren wir, am Lungomare entlang, in die Chiaia mit ihren mondänen Geschäften und Restaurants. Dort ist erst einmal Pause. Denn am Abend steht noch eine Oper im Teatro di San Carlo, dem ältesten Theater Italiens, auf dem Programm. Eine junge Alternative dazu: die Galleria Toledo.
Mit der Metropolitana fahren wir heim. Deren Linie 1 rechtfertigt per se eine Sightseeing-Tour: Künstler haben die Stationen gestaltet. Lebenskünstler nutzen öffentliche Verkehrsmittel. Wenige Euro kostet ein Tagesticket, Nerven kostet das Warten.
Unser Hotel liegt auf dem Capodimonte im Norden. Dort beginnt der Tag für manchen Einheimischen mit einem Lauf durch den Park am Nationalmuseum. Von dort oben hat man eine fantastische Aussicht auf den Golf und die Stadt, in der es noch so viel zu erleben gibt: eine Fahrt mit dem Funicolare, der Standseilbahn, auf den Vomero, ein höher gelegenes, bürgerliches Stadtviertel, auf dem das Castel Sant’Elmo, thront. Noch etwas lassen wir uns nicht entgehen: die Eingeweide von Neapel. Dabei geht es nicht um Essen, sondern um die Stadt unter der Stadt. Um Höhlen und Katakomben. Denn Neapel hat Höhen und Tiefen. Wie das Leben, das in der Stadt pulsiert.
Elisabeth Peutz