Sagen wir es so: Es war schon einmal wärmer. Das Thermometer an der Außenwand des „Bahnhofs Zugspitzplatt“ zeigt erfrischende minus 14 Grad. Wobei beides relativ ist: die Sache mit dem Bahnhof, weil es eigentlich nur die Bergstation der Zahnradbahn hinauf auf die Zugspitze ist, und die Sache mit den minus 14 Grad, weil dazu ein spätabendlicher Schneesturm pfeift, der die eisige Temperatur auf der Haut noch kälter erscheinen lässt.
2600 Meter Seehöhe, stockdunkle Nacht, Tiefdruckfront aus Nordost, unverbaute Hochalpinkulisse: kein Platz für romantische Mondscheinspaziergänge. „Nicht hinter die Absperrungsseile hinausgehen, es können Felskanten und Schneelöcher lauern“, hat der Guide das Nervenkitzeln mit einer zusätzlichen Portion Unbehagen gefüttert. Viel deutlicher kann einem die Natur nicht zu verstehen geben, dass man hier als Mensch relativ wenig zu suchen hat. Eigentlich gar nichts. Trotzdem sind wir hier. 50 Personen stapfen auf Deutschlands höchstem Gipfelplateau durch die eiskalte Nacht. Der Wind tobt, die Flocken tanzen, die Zehen frieren. Das Gesicht lacht.
Weil? Weil es im wahrsten Sinne des Wortes extrem cool ist. Die ganze Kraft der kalten Jahreszeit so richtig hautnah zu spüren – wo kann man das denn noch in Wintern wie diesen?
Nach einer halben Stunde „Natur pur“ geht’s für die Nachtwanderer zum Aufwärmen wieder zurück. Nein, nicht in eine urige Berghütte mit heimeliger Ofenbank und knisterndem Kamin, sondern in ein überdimensionales Schneeloch. „Iglu-Dorf“ nennt sich dieser Unterschlupf, in dem die Gruppe heute übernachten wird. Freiwillig.

Schafwollfelle als Matratze

Seit elf Saisonen gibt es dieses ungewöhnliche „Hotel“ auf der Zugspitze. 2700 Gäste haben im letzten Winter hier übernachtet, ein Plus von 20 Prozent gegenüber dem Jahr davor. Davon können die 800 konventionellen Beherbergungsbetriebe der Region rund um Garmisch-Partenkirchen nur träumen. 3500 Hotel- und 4000 Ferienwohnungsbetten würden 1900 Höhenmeter weiter unten auf müde Gäste warten. Aber statt Matratze, Daunendecke und Doppelbett gibt es heute knapp unter Deutschlands höchstem Gipfel einen zum altarähnlichen Block zugeschliffenen Schneehaufen, darauf ein paar flauschige Schafwollfelle als „Weichmacher“ und einen monströsen Schlafsack, mit dem man auch eine stürmische Freiluftnacht in der Antarktis locker überleben würde.

Ein Bett im Korn... äh Schneefeld
Ein Bett im Korn... äh Schneefeld © Höfler
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Schlafen in einer Tiefkühltruhen-Umgebung – dieses Geschäftsmodell haben sich Schweizer vor zwanzig Jahren einfallen lassen und nach Standorten in ihrer Heimat (Davos, Engelberg, Gstaad, Zermatt) mittlerweile auch Andorra und eben die Zugspitze im Programm.
Acht Wochen dauert das Erbauen der Anlage, die mit einem Iglu nur den Namen teilt. Keine Schneeziegel werden hier zugeschnitten und aufeinandergestapelt, sondern riesige Hartgummi-Ballone in Form der späteren Zimmer aufgeblasen, Tanks für die WCs eingegraben und mit der Schneefräse wie wild Schnee daraufgeblasen. Innerhalb von ein bis zwei Tagen ist so ein kompakter Rohbau mit bis zu eineinhalb Meter dicken Außen- und Zwischenwänden und Verbindungsgängen fertig. Die Ballone werden ausgelassen und rausgezogen, die Gestaltung der „Inneneinrichtung“ beginnt.

Päpstlicher Segen

Da liegt man dann. Schlafsack neben Schlafsack, wie Insektenlarven. In der Daunenhülle ist es überraschend warm (es reicht eine dünne Skiunterwäsche). Die Zehen tauen auf! Nur um die freie Nasenspitze und an den unter der Haube herausblitzenden Ohrläppchen spürt man die arktische Umgebung. Wahlweise kann man so vom abendlichen Käsefondue, der Sauna, dem Freiluftwhirlpool oder der Schneebar träumen, die allesamt die Abendgestaltung zwischen kurzzeitigen Frostattacken kurzweilig gehalten haben.

Sonnenaufgang auf der Zugspitze
Sonnenaufgang auf der Zugspitze © Höfler


Am Morgen belohnt die Natur den Heldenmut der Kältekammerschnarchnasen mit einem Sonnenaufgang hinter atemberaubenden Gipfelketten und vor der höchsten Kapelle Deutschlands – geweiht vom damaligen Erzbischof von München und späteren Papst Joseph Ratzinger. Noch hat man das Bergidyll für sich alleine. Noch ist keiner der 500.000 Gäste da, die jährlich die Zugspitze fluten. Noch ist Ruhe.