Es scheint so etwas wie eine kollektive Gruppensehnsucht zu sein: Kaum klettern die Temperaturen im Winter in den Minusbereich, entsteht vor dem inneren Auge ein Bild, das jedes noch so mittelmäßige Zeichentalent ohne großen Aufwand hinbekommt – Strand, Meer, Palmen, sonst nichts. Die einsame Insel ist des modernen Menschen Sinnbild für das Paradies – auch wenn die Schlange inkludiert ist. Die Sehnsucht nach der ultimativen Freiheit, nach dem süßen Nichtstun, den fix und fertig gebratenen Tauben und den fliegenden Kokosnüssen. Stopp! Fantasie führt großzügigst Regie! Aber so tickt der Mensch, an seinen Traumbildern ist nicht zu rütteln.
So wie bei Robinson Crusoe: 28 Jahre lässt Autor Daniel Defoe seinen Protagonisten, einen Seemann, nach einem Schiffbruch auf einer einsamen Insel darben. Vorbild für den 1719 erschienenen Literaturklassiker ist das reale Abenteuer des Schotten Alexander Selkirk, der als Teil einer Freibeutercrew Anfang des 18. Jahrhunderts nach einem Streit von seinem Kapitän auf der chilenischen Insel Isla Más a Tierra, heute Isla Robinson Crusoe, ausgesetzt wurde.
Defoes Version davon war dermaßen erfolgreich, dass die künstlerische Umsetzung einer unfreiwilligen Isolation auf einer Insel fortan sogar mit einem eigenen Genre bedacht wurde: die Robinsonade. Dass Crusoe auch mit einem eigenen Tag, dem 1. Februar, im Kalender verankert wird, war reine Formsache. Auch abseits des Kalenders kommt man um den wohl berühmtesten Schiffbrüchigen nicht herum: Ab 5. Februar schickt Hollywood in einem Animationsabenteuer einen Crusoe auf die Leinwand – ein Abenteuer in der Endlosschleife.
Die Erfüllung eines Traums
Einer solchen wollte 2008 der Schweizer Xavier Rosset auch entkommen: Nach zehn Jahren im professionellen Snowboardzirkus war er an einem Endpunkt angelangt. Viel gesehen, viel erlebt, viel erfüllt. Es galt, das Leben neu zu ordnen. Oder in seinen Worten: „Wir müssen unseren Träumen folgen.“ In seinem Fall hat der Traum die beachtlichen Ausmaße von 64 Quadratkilometern. Spricht er von ihm, wird einem schnell die Einzigartigkeit seines Traumes bewusst – er sagt: „Meine Insel.“ Es sollte das Gegenteil seiner damaligen Welt werden – Sonne statt Schnee, Meer statt Berg. Und es wurde Tofua. Viereinhalb Monate war er auf Inselsuche, fündig wurde er im Königreich Tonga.
Nach 14 Monaten Vorbereitungszeit startete sein Abenteuer: 300 Tage oder zehn Monate allein auf einer einsamen Insel. Seine Ausrüstung: Taschenmesser, Machete, Feuerzeug, Erste-Hilfe-Set, Satellitentelefon für Notfälle und eine Kamera plus Solarpanel. Während seiner Zeit drehte Rosset die Dokumentation „300 Tage auf einer Insel“ (auf YouTube zu finden). Schon am achten Tag vermeldet er: „ Ich bin 22.000 Kilometer von zu Hause entfernt – so weit weg von Freunden, Familie und Kühlschrank. Und das Schlimmste: Es war meine Idee.“
Rosset muss sein Leben auf null stellen, de facto ein neues Leben beginnen: „In unserer Welt müssen wir permanent etwas arbeiten, erledigen, kaufen. Auf der Insel ist es genau umgekehrt – die einzige Sache, um die du dich sorgen musst, bist du selbst. Das Überleben steht im Vordergrund. Du brauchst Essen und Wasser, du lebst im Hier und Jetzt.“ Er fischt, er baut sich einen wasserfesten Unterstand, legt einen Gemüsegarten an und er erfährt einen neuen Umgang mit der Zeit: Er lernt, sich Zeit zu lassen. Neben kleineren Verletzungen und Entzündungen ist vor allem die Einsamkeit sein ständiger Begleiter und seine größte Belastung. Erfolge, wie Misserfolge, mit niemandem zu teilen, ist seine größte Herausforderung.
Aber Rosset zieht daraus auch seine Motivation und lernt die Rückbesinnung auf die kleinen Freuden: „Du fängst einen großen Fisch, du isst ihn und legst dich dann am Abend auf einen Felsen irgendwo im Nirgendwo, vor dir der Ozean und du schaust dir die Sterne an.“ Er lebt sich ein, erkundet die Insel, aber merkt auch hier die Zivilisationskrankheiten, die er eingeschleppt hat: „Wenn ich nur einen Tag nicht auf Erkundungstour war, hatte ich schon ein schlechtes Gewissen. So, als würde ich einen Tag vergeuden. Ich musste jeden Tag etwas tun, um am Ende des Tages zufrieden zu sein.“ Als er nach mehreren Monaten in seiner selbst gebauten Wildschweinfalle einen Frischling findet, hat er mit „Peggy“ für rund vier Monate eine quirlige Begleitung, bevor sie sich wieder in den Dschungel verabschiedet. Für Rosset ein schmerzvoller Abschied, gleich wie das Ende seines Abenteuers. Doch viele Dinge bleiben, darunter die Erfahrungen, die hart erarbeitet wurden: „Ich habe eine Menge gelernt – vor allem über mich selbst, über mein Verhalten, wer ich wirklich bin, über menschliche Instinkte und wie weit ich mein Limit ausdehnen kann.“
Wie sehr seine Geschichte Sehnsüchte weckt, davon zeugen die vielen Anfragen potenzieller Insulaner. Für die hat er auch zwei Tipps: „Überlegt euch ganz genau, warum ihr das machen wollt – und macht es nicht von der Meinung anderer Menschen abhängig. Und noch wichtiger: Sucht euch eure eigene Insel!“