Das sind doch die besten Reisen: Man hat so viele Klischees im Gepäck, dass man am Ende des Tages an einem ganz anderen Ort steht, als man eigentlich erwartet hat. So etwas nennt man wohl nachhaltiges Reisen oder doch Reisen mit Nachhall? Auf Miami trifft beides zu - wer sich kurz nach der Ankunft der gleißenden Sonne stilecht mit einer Wayfarer-Sonnenbrille von Ray Ban der ersten Schießerei à la "Miami Vice" stellen möchte, ist um Jahre zu spät, genauso, wer sich vor Horden sonnenhungriger Pensionisten fürchtet.
Miami hat seine Klischees längst überholt, aber mit beständigem Tempo, kein Hetzen, kein Hasten. Braucht es auch nicht, wer mit nahezu 365 Sonnentagen im Jahr gesegnet ist und wo die Temperaturen auch in den kältesten Monaten nicht unter 23 Grad fallen, lebt inmitten einer Zone, von der andere für gewöhnlich nur träumen: Miami liegt in den Tropen. Und ist Tor und Drehkreuz für Paradiessucher - nicht umsonst liegt hier der größte Kreuzfahrtschiffhafen der Welt. Doch Miami will mehr sein als nur ein Durchzugsort auf dem Weg in die Karibik. Miami will nicht weniger als die Hauptattraktion sein. Und es scheint ihr zu gelingen - die Stadt boomt, Baukräne stehen als Begrüßungskomitee auf dem Weg nach Miami Beach.
Die Stadt ist kein Museum, sondern Shootingstar, nicht zuletzt für Kapital aus südamerikanischen Ländern wie etwa Venezuela: "Miami ist die Schweiz der USA", beschreibt der Tourismusexperte Frank Nedderhoff eine Seite des Baubooms der Stadt. Und gebaut wird überall - nicht zuletzt in der Tourismushochburg Miami Beach: Was vor 100 Jahren noch eine mit Mangroven bewachsene Sandbank war, hat sich über die Jahrzehnte zum Paradies für Sonnenhungrige, Promis und Nachtschwärmer gemausert. Auch hier tut sich was: Viele Hotels werden renoviert, mit mehr Substanz aufgewertet, mittlerweile verfügt man über die höchste Anzahl an Boutiquehotels weltweit.
Kunst gegen Koks
Aber es wird nicht ohne Sinn und Verstand gebaut - ein Lehrstück findet man am legendären Ocean Drive, der Hauptstraße des berühmten Art-Déco-Districts. Über 800 historische Gebäude, darunter das Breakwater Hotel, wurden seit den 70er-Jahren restauriert. Ursprünglich zum Abriss freigegeben, kämpfte sich eine private Initiative (Miami Design Preservation League) durch die Instanzen und rettete die Gebäude.
Maureen Robinson, eine ehemalige Lehrerin und Bewohnerin des Viertels, führt Touristen ehrenamtlich durch den District und verrät jene Glücksformel, der auch die jetzige Neuausrichtung folgt: "Die Amerikaner sind keine Künstler, aber sie sind Menschen, die anpacken." Die Kunstschaffenden, die brachte 1983 Verpackungskünstler Christo nach Miami. Er ummantelte damals nicht nur elf Inseln in der Biscayne Bay mit Hunderttausenden Quadratmetern pinkfarbenem Stoffgewebe, sondern ermöglichte der Stadt einen Neuanfang oder in Maureens dramatischen Worten: "Die Künstler kamen, um uns zu retten."
Das Miami dieser Zeit war ein Drogensumpf der Extraklasse, die sogenannten "Cocaine Cowboys" regierten die Stadt. Das Paradies war die Hölle. Auch die jetzige steile Karriere verdankt Miami unter anderem der Kunst - seit 2002 ist die Art Basel mit einem Ableger in der Stadt und beflügelt Investoren und lockt Künstler aus aller Welt an. Die Spuren ziehen sich quer durch die Stadt - es muss eben nicht immer nur Miami Beach sein, dessen 15 Kilometer langer und unendlich breiter Sandstrand noch immer das Maß aller Dinge ist. Doch dort kann man sich erholen, wenn man den Rest gesehen hat - wie etwa den Wynwood-Art-District. Hier erobert sich die Streetart-Szene Haus für Haus, legal und gewünscht. Zwischen Design-Läden, Galerien und Werkstätten haben sich Street-Art-Künstler aus aller Welt verewigt. Abends wird hier gefeiert - Starbucks und andere große Ketten sucht man hier vergeblich. Das Credo lautet kreative Nachbarschaftshilfe, wie Ryan Wheelbarrow, selbst Künstler, bei einem Rundgang erklärt: "Füttere die Nachbarschaft und die Nachbarschaft füttert dich."
Die aktuelle Entwicklung folgt dem Prinzip Wunderland - hinter jeder Ecke ein anderes Konzept. Nur zehn Minuten von Wynwood entfernt, hat der Miami-Design-District seine Zelte aufgeschlagen. Die Pläne sind ambitioniert: Architektur trifft hier auf Einrichtungsdesign. Dutzende Luxusmarken haben sich über das ganze Viertel verteilt - mit eigens gestalteten Flagshipstores. Im Visier: gut betuchte Kundschaft aus Südamerika, China und dem arabischen Raum. Im Land der Shoppingmalls zelebriert man hier die Abkehr vom Einkaufstempel und die Rückkehr zum Flaneur.
Die Transformation der Stadt ist verschwimmend, genauso, als würde man Farbe in klares Wasser tröpfeln. Manchmal sieht man sie stärker, manchmal nur in Ansätzen - wie etwa in Little Havana. Hier lebt man Geschichte, immerhin eine Million Kubano-Amerikaner wohnt in Miami - ja, die Stadt ist eine Einwanderungsstadt und Little Havana ist die sehnsüchtige Reminiszenz an die Heimat Kuba.
Wer sich hemmungslos verlieben möchte, der schließt sich einer Kulinarik-Tour an: Zwischen Empanadas, Kuba-Kaffee, Zigarren, Cuba Libre und Zuckerrohrsaft hat hier noch jeder sein Herz verloren. Oder war es doch das Ingwereis im Eissalon Azúcar? Wen die Sehnsucht nach Kuba gepackt hat, mischt sich einfach unter die Domino-Spieler im Maximo Gomez Park - hier zeigen sich die Veränderungen im Kleinen, die die Weltpolitik beschlossen hat. Die Annäherung an Kuba sieht vor allem die ältere Generation skeptisch: "Wir geben alles nach Kuba, aber Kuba gibt uns nichts zurück", übt der Exil-Kubaner Hernaldo Kritik an der Entwicklung. Die Jungen zeigen sich da weit offener - den Wunsch nach einem Kuba-Besuch inklusive. Lizenzen für Direktfähren nach Kuba wurden bereits ausgestellt.
Aber zuvor gilt es noch einen anderen Pflichtbesuch zu absolvieren: 5000 Florida-Originale warten auf Touristen. Nur eine Fahrtstunde von Downtown Miami entfernt, erstreckt sich der Everglades-Nationalpark, Heimat der berühmten Alligatoren. Ein 615.000 Hektar großes Naturjuwel, das auch rund 10.000 Pythons beherbergt. Wer jetzt an ein exotisches Souvenir denkt, dem sei eine bestechende Alternative empfohlen: Miamis Bewohner haben die meisten Tätowierungen in den USA, auf 100.000 Bewohner kommen im Durchschnitt 24 Tattoo-Studios. Denn wer sagt eigentlich, dass man Miami nur im Herzen tragen kann?
VON SUSANNE RAKOWITZ