Mehr als 2000 Tage danach, fünf Jahre und sieben Monate später, streben die steinernen Linien von Notre-Dame himmelwärts, als wäre nichts gewesen. In den gotischen Portalen spielen die Schatten wie seit Jahrhunderten, die Türme überragen das Getriebe der Stadt, die Teufelchen und Gargoylen spucken hinunter auf die Ufer der Seine, wie seit dem Mittelalter schon.
Es finden sich, auf dem Vorplatz von Notre-Dame, heute keine Spuren der Flammen, des verheerenden Brandes. Vergessen die Angst, die Christenheit könnte ein großes Gotteshaus verlieren, Paris ein Wahrzeichen, Frankreich seine symbolträchtigste Kathedrale und die Welt einen Schatz ihres Kulturerbes, einen Sehnsuchtsort, der jedes Jahr zwölf Millionen Besucher anzieht.
Vor mehr als 2000 Tagen, am 15. April 2019, stand Notre-Dame de Paris in Flammen, das Dach über dem Langhaus war mitsamt Spitzturm bereits glühend in die Tiefe gestürzt, drei Löcher in das Gewölbe der Kathedrale schlagend, als auch in den zuvor dunklen Fenstern des Nordturms plötzlich das flackernde Licht von Feuer zu sehen war.
Um 18.18 Uhr war der erste Alarm losgegangen. Um 21.30 Uhr beschloss der Kommandant der Feuerwehr, eine Gruppe von 20 Männern in den Nordturm zu schicken, eine lebensgefährliche Mission. Erst kurz vor 23 Uhr konnte der Kommandant Entwarnung geben: Notre-Dame ist gerettet. Aber hatte das Löschwasser das Gemäuer nachhaltig beschädigt? Würden die Mauern halten ohne die Last des Daches?
Notre-Dame: die Jahrhundertbaustelle
Die Franzosen haben nach dem Unglück einen ähnlichen Sinn für Resilienz bewiesen wie nach den islamistischen Attentaten. Am Abend nach dem Brand verkündete Präsident Emmanuel Macron, dass Notre-Dame „noch schöner“ wiederaufgebaut werden würde, in nur fünf Jahren. Es wurde gespendet, nicht nur von Frankreichs Milliardären, sondern von Menschen aus aller Welt. 846 Millionen Euro flossen in die Kasse von „Rebâtir Notre-Dame de Paris“, der öffentlichen Gesellschaft, die unter staatlicher Aufsicht für die Restaurierung der Kathedrale zuständig ist.
Fünf Jahre später kann man auf der von den Läufen der Seine umarmten Ile-de-la-Cité den Kopf in den Nacken legen und die Spitze des Vierungsturms erkennen, die Krone mit den Reliquien, das Kreuz, den vergoldeten Hahn. Aber man muss gar nicht in den Himmel schauen, um ins Taumeln zu geraten, es gibt so viele Zahlen, die schwindelerregend sind. 2000 Eichen mussten gefällt werden, um den Dachstuhl der Kathedrale originalgetreu wiederaufzubauen. Die 8000 Pfeifen der Orgel, die den Brand unbeschadet überlebt hatte, mussten einzeln gesäubert und neu gestimmt werden. 70.000 Einzelteile zählte allein das Gerüst, das um den neu errichteten Spitzturm hochgezogen wurde, 600 Tonnen schwer. Knapp 700 Millionen Euro hat die „Jahrhundertbaustelle“ gekostet.
Ein riesiges Puzzle
Es gibt all diese Daten, die Jahreszahlen, Gewichte, Längen, Höhen, aber vor allem die Vielfalt und teils uralte Expertise der am Wiederaufbau beteiligten Menschen sind beeindruckend. Gut 2000 Spezialisten waren am Werk, Geologen, Archäologen, Architekten und Handwerker, Zimmerer, Steinmetze, Dachdecker, Kunstschmiede, Restauratoren, Orgelbauer.
Ihre Namen stehen auf einer Pergamentrolle, die im Inneren des Wetterhahns ihren Platz gefunden hat. Auch der von Matisse Gousset ist dort zu lesen. Er ist Steinmetz, 26 Jahre alt, und stolz darauf, auf diesem Papier verewigt worden zu sein. Von „Ausnahmebaustellen“ hatte er seit seiner Ausbildung im Denkmalschutz geträumt. Aber Notre-Dame? Das hat er sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können.
Ein ganzes Jahr hat Gousset auf der Baustelle verbracht. Die spannendste Phase war die, als die Wissenschaftler versuchten, das Puzzle des zerlöcherten Kreuzgewölbes wieder zusammenzulegen. Von den 79 herabgestürzten Keilsteinen hatten sie 70 wiedergefunden. Per Computer wurden endlose Möglichkeiten durchgespielt, Flugbahnen berechnet. Geophysiker untersuchten, ob die Temperaturen von bis zu 1212 Grad den Steinen nicht zu sehr zugesetzt hatten. Am Ende waren nur 15 wiederverwendbar.
Kirsche statt Schwimmbad
Anfangs war unklar, ob das Wissen und die Handwerker überhaupt noch vorhanden sind, um eine Kathedrale wiederaufzubauen. Und vor allem so schnell. Als Macron von fünf Jahren spricht, wird er für verrückt erklärt. „Mit dem 3D-Drucker vielleicht“, mokiert sich ein Mediävist. „Macron glaubt an Wunder“, titelt die „Libération“.
Die Franzosen verwandeln die Katastrophe in eine Chance. Obwohl die Charta von Venedig seit 1964 vorschreibt, historische Monumente originalgetreu wiederaufzubauen, wird die ersten Wochen nach dem Brand heftig gestritten, wie mit der Ruine umzugehen sei. Viele argumentierten, dass die Kathedrale vom Architekten Eugène Viollet-le-Duc Mitte des 19. Jahrhunderts verschandelt worden sei. Er hatte den Vierungsturm neu errichten lassen, den es nicht mehr gab.
Macron ließ einen Wettbewerb ausschreiben. Die Vorschläge, die eingingen, überboten sich gegenseitig im Ausmaß ihrer Absurdität. Schwimmbäder, Gewächshäuser, alles schien möglich auf dem zerstörten Dach von Notre-Dame. „Am Ende war das gut, weil es allen den Wert des Alten bewusst gemacht hat“, urteilt Rémi Fromont rückblickend, einer der für den Wiederaufbau verantwortlichen Architekten.
Eröffnungszeremonie am 7. Dezember
Notre-Dame, das sind Jahrhunderte des Bauens, des Zerfalls, der Zerstörungen und des unermüdlichen Wiederaufbaus. Notre-Dame, das sind 861 Jahre Geschichte, so lange ist es her, dass der Pariser Erzbischof Maurice de Sully den Grundstein legen ließ für eine Kathedrale, länger, breiter und höher, größer und schöner als jede andere. Der Erzbischof schrieb mit Notre-Dame Baugeschichte. Mit ihrer Länge von 127 Metern und einem 33 Meter hohen Gewölbe stellte die Kathedrale alle Vorgängerinnen in den Schatten. Sie strebte nach oben, in den Himmel, nach noch mehr Nähe zu Gott.
2000 Ehrengäste, Gläubige und am Wiederaufbau beteiligte Handwerker sind zur Eröffnungszeremonie am 7. Dezember eingeladen. Sie werden überrascht sein, wie sich der Innenraum von Notre-Dame verändert hat. Wie Chartres nach der Renovierung wird die Kathedrale im hellen Glanz erstrahlen. Manch einer wird sie als zu weiß empfinden, die Wandmalereien in den Kapellen als zu bunt. Aber nichts daran wäre falsch.
Besucher von Notre-Dame können so auch künftig den bittersüßen Schauder über die Erhabenheit eines Menschheitsbaus erfahren, den Sigmund Freud hier einst erlebte. Er habe, schrieb der Vater der Psychoanalyse nach einem Besuch der Kathedrale an seine Frau, noch nie etwas so Bewegendes gesehen. „Das ist eine Kirche“, schrieb er und setzte ein Ausrufezeichen dahinter.