Wir stehen am Balkon des Klosters Guru Lhakhang in Nepals Hauptstadt Kathmandu, Auge in Auge mit Buddha. Vor uns eines der größten buddhistischen Bauwerke der Welt, der Boudhanath Stupa. Unter uns eine nicht enden wollende Schar von Menschen, die sich im Uhrzeigersinn rund um die riesige, weiße Kuppel bewegt. Eine andächtige Stimmung liegt über dem Platz, trotz des Getümmels. Die 13 Stufen an der Spitze des Turms symbolisieren den Weg ins Nirvana. Direkt unterhalb blicken die Augen Buddhas in alle vier Himmelsrichtungen und künden von Weisheit und Erleuchtung.
Boudhanath ist eine von sieben Unesco-Welterbestätten im Kathmandutal. Mit unserem Begleiter Dipendra reihen wir uns ein in den kreisenden Strom und biegen unversehens ab. Der Guide bringt uns in einen kleinen Raum voller „Gold“: Wir sind im Healing Bowl Center, und zwei Nepali demonstrieren die Wirkung dieser 6000 Jahre alten Kunst. Diese Klangschalen sind handgefertigt, keine industrielle Massenware. Eine bekomme ich auf den Kopf gestülpt: Der Meister versetzt sie in Schwingungen, und schon nach kurzer Zeit fühle ich, wie sich Kopf und Nacken entspannen.
Weiter geht es zu Welterbestätte Nummer 2, Pashupatinath. Den Nachhall der Klangschalen noch in den Ohren, schrecke ich auf, als Dipendra ankündigt, was uns bevorsteht: Pashupatinath ist einer der wichtigsten Hindutempel Nepals. Und: Am Ufer des heiligen Flusses Bagmati werden die Leichen der Gläubigen verbrannt.
Am anderen Ufer des Flusses sehen wir die glosenden Stapel aus Holz, doch die Szenerie hat nichts Bedrohliches. Alte Menschen spüren den nahenden Tod, erzählt Dipendra. Sie kommen hierher, kurz bevor es zu Ende geht, oder werden von ihren Verwandten unmittelbar danach hergebracht. Der letzte Atemzug soll möglichst nahe dem heiligen Fluss getan werden. Ein Sohn muss traditionell das Feuer entzünden – notfalls darf es auch eine Tochter sein. Die Verbrennung dauert drei bis vier Stunden, danach wird die Asche dem Fluss übergeben.
Menschen nehmen würdevoll Abschied und verbringen Stunden am Ufer des Flusses. Andere, darunter viele Inder, reisen hierher, weil ihnen dieser Shiva gewidmete Tempel heilig ist. Eine Reihe rotgewandeter Mönche kreuzt unseren Weg, heilige Kühe mustern uns gelassen, aufwändig maskierte Schamanen werfen sich in Pose. Wir wenden uns wieder dem Leben zu.
Affen, Verkehrschaos und eine lebende Göttin
Der „Affentempel“ Swayambunath ist unser nächstes Ziel. 80 Prozent der Nepali sind Hindus, fast alle beten auch zu Buddha. Rund zehn Prozent sind Buddhisten, aber die Religionen sind in Nepal eng miteinander verflochten, viele Tempel sind allen gleichermaßen heilig. Swayambunath, hoch über Kathmandu, ist eine der ältesten buddhistischen Tempelanlagen der Welt, in der die allsehenden Augen des Erleuchteten milde auf hinduistischen Schreinen ruhen.
Dank Dipendra öffnen sich wieder Türen zu einer Innensicht: Mandalas und Thangkas (handgemalte Rollbilder) bekommt man in Nepal an jeder Straßenecke, aber hier trennt sich die Spreu vom Weizen. Zwei Jahre lang arbeitet der fortgeschrittene Meister an seinem Werk, erfahren wir in der Galerie. Und wahrer Glanz lässt sich nur durch echtes Blattgold erzeugen. Schönheit hat ihren Preis – aber zumindest ein kleines, edles Stück ist leistbar.
Entspannt lehnen wir uns im Minibus zurück. Die Klangschale wirkt noch nach, sonst hätte sich der Puls längst erhöht: Der Verkehr im Kathmandutal ist unbeschreiblich. Die Hupe ist das wichtigste Werkzeug, das Moped ist Hauptverkehrsmittel und Familienkutsche – bis zu vier Personen sitzen auf einem Roller. Die Luft ist extrem schlecht.
Jetzt sind wir mitten in Kathmandu, auf dem Weg zum Durbar Square. Die Straßen sind in teils katastrophalem Zustand, rechts und links zwischen den Häusern Ruinen. Im Jahr 2015 wurde Nepal von einem Erdbeben heimgesucht, das ganze Stadtviertel in Schutt und Asche legte, auch die Welterbestätten. Diese wurden als erste wieder aufgebaut, für den Tourismus, aber auch aus Respekt vor der spirituellen Bedeutung für die Bevölkerung. Vieles andere muss warten.
Auf den Straßen das pralle Leben. Frauen, die Obst und Gemüse feilbieten. Männer, die auf überdachten Bänken ruhen, ein Schneider, der seine Nähmaschine auf dem Gehsteig aufgebaut hat, Köchinnen, die Gerichte ihrer Garküchen aus dem Fenster reichen. Und überall Baustellen: Männer schaufeln Sand und Kies in die Butten, Frauen tragen sie über die Straße zur Mischmaschine.
Der Durbar Square ist das Zentrum der Stadt. Durbar heißt Palast, erst 2008 wandelte sich Nepal vom Königreich in eine Republik. Mehr als 50 Pagoden, Tempel und Paläste, meist aus Holz, sind Ausdruck der Kunstfertigkeit der Newar über viele Jahrhunderte hinweg. In einem der Tempelpaläste lebt die Kumari, eine Kindgöttin, die als Inkarnation der Göttin Taleju gilt. Im Alter von zwei bis vier Jahren wird sie ausgesucht und bis zur ersten Menstruation als „lebende Göttin“ verehrt. Einmal im Jahr suchte auch der König sie auf, um ihr die Füße zu küssen. Eine Tradition, die der maoistische Premierminister übernahm.
Durbar Square Nummer 2 und 3
Einen Durbar Square gibt es auch in Patan und in Bhaktapur, und alle drei zählen zu den Welterbestätten. In Patan beeindruckt uns neben den prächtigen buddhistischen und hinduistischen Tempeln die königliche Badeanlage aus dem Mittelalter. Bhaktapur entpuppte sich als unser Lieblingsplatz im Kathmandutal: Der dortige Durbar Square mit dem Königspalast ist nur einer von mehreren autofreien, stimmungsvollen Plätzen. Wie der Taumadhi Square mit der fünfstufigen Pagode, nicht zerstört vom Erdbeben 2015. Von der gegenüberliegenden Rooftop-Bar im Café Himalaya aus lässt sich das Treiben am Platz stilvoll über einem köstlichen Affogato beobachten. Der Dattatraya Square bietet wunderschönes Holzdekor an allen Fenstern und Balkonen, darunter das berühmte geschnitzte Fenster mit einem Pfau aus dem 15. Jahrhundert. Auf dem Pottery Square warten Töpferwaren aller Art.
Welterbestätte Nummer 7 liegt rund 30 Kilometer außerhalb von Kathmandu, die Tempelanlage in Changunarayan auf dem Wege nach Nagarkot. Vermutlich ist es der Lage geschuldet, dass es hier ruhiger zugeht als an den Orten zuvor. Das kleine Dorf Nagarkot ist unser Fenster zum Dach der Welt: 40 Prozent des Landes liegen über 3000 Meter hoch. Acht von 14 Achttausendern der Welt befinden sich in Nepal.
Im Sommer liegt das Kathmandutal unter einer Dunstglocke – doch wer noch vor Sonnenaufgang auf der „Terrasse“ in 2200 Metern Höhe eintrifft, dem eröffnet sich ein atemberaubender Blick auf die Himalajakette, vom Annapurna im Westen über den Mount Everest bis hin zum Lhotse. Es ist nur ein Augenkontakt, musikalisch begleitet vom Gezwitscher erwachender Vögel, im Lichte des Strahlenkranzes der aufgehenden Sonne. Er prägt sich jedoch tief ins Gedächtnis ein.
Claudia Gigler