Wie weit es ein Argentinier mit seinen Füßen bringen kann, weiß dank Lionel Messi jeder. Aber wie ist es um die Seele des riesigen Landes bestellt? Die Spurensuche beginnt nicht in Buenos Aires, sondern in Salta, mehr als 1000 Flugkilometer weiter nordwestlich. „La Linda“, die Schöne, liegt auf fast 1200 Metern Seehöhe und wird auch „Stadt des ewigen Frühlings“ genannt. Drei Stunden Autofahrt später und 500 Meter höher nehmen wir Quartier in Cafayate, der Weinstadt der Provinz Salta. Weingärten auf knapp 1700 Metern?
Der europäische Sommer ist der südamerikanische Winter. Der ist in Salta aber recht mild: kein Schnee, 320 Sonnentage pro Jahr, Wasser aus den Bergen speist die Reben. Das Resultat wird schon beim Empfang in der Finca El Recreo, ein herrschaftliches Anwesen mit weitläufigem Park und dem angeschlossenen Weingut Lavaque, kredenzt: Die Torrontés-Riojano-Traube ist die bedeutendste Weißweinsorte der Region, der aromatische Geschmack ähnelt dem Muskateller. Im Kamin lodert ein wärmendes Feuer, wir gehen auf Tuchfühlung mit dem Criolla, einem leichten Wein aus einer sehr ursprünglichen, rosa Traube. Und mit Félix – die Sorte trägt den Vornamen der Besitzer seit drei Generationen.
Die „Vinos de altura“ – Weine aus hohen Lagen – sind das Aushängeschild der Region. Auf dem Weingut Porvenir („Die Zukunft“) von Familie Romero erfahren wir, dass die Trauben in fünf Fincas in fünf verschiedenen Höhen wachsen. Der Standort der Reben prägt den Charakter des Weins. Die, die am höchsten gelegen wurzeln, sind die exklusivsten: auf 1850 Metern Seehöhe wird händisch gepflückt.
Der Wein mundet, aber der Magen verlangt auch nach fester Nahrung: Der Blick von der Terrasse des Weinguts „Viñas en Flor“ verzückt, das Nass des Springbrunnens bricht die trockene Aura der Umgebung, bei „winterlichen“ 20 Grad genießen wir Kürbis-Risotto, Kalbsbries mariniert mit Traubenmost, Rindsfilet im Malbec geschmort – und neue Spielarten von Torrontés & Co. Im Weingut Piattelli versüßt schließlich noch ein Tröpfchen den traumhaften Sonnenuntergang: Langsam versinkt der Feuerball und taucht die Berge in ein strahlendes Rot. Der lilafarbene Lavendel gibt sein Bestes, um mit dem Farbenspiel mitzuhalten.
Kakteen und Konquistadoren
Früh am Morgen machen wir uns auf, die Tiefe der argentinischen Seele im Spiegel ihrer Vergangenheit auszuloten. Rund eine Stunde südlich von Cafayate liegen die Ruinen von Quilmes. Schon vor 3000 Jahren siedelten hier die Inkas. Mit der Gründung der Stadt im Jahr 800 blühte die Kultur noch einmal kräftig auf – bis die Spanier auf den Kontinent kamen.
Guide Ismael ist von Stolz durchdrungen. Er hat Vorfahren, die als Sklaven für die Spanier arbeiteten, er erkämpfte mit anderen, durch deren Adern indigenes Blut fließt, dass nur sie es sind, die für die Touristen die Vergangenheit von Quilmes auferstehen lassen dürfen.
1665 wurden 3000 Einwohner von den Spaniern getötet – nach 130 Jahren Widerstand gegen die Konquistadoren. Weitere 3000 trieben die Eroberer nach der Niederlage zu Fuß nach Buenos Aires, nur 400 überlebten den Gewaltmarsch und erreichten sein Ziel. Wenige konnten den Häschern entkommen und in der Region bleiben. „Über die Jahrhunderte verlor sich unsere Identität. Doch jetzt sind wir dabei, sie zurückzuerobern, uns unserer Wurzeln zu besinnen, um unsere Rechte zu kämpfen“, erklärt Ismael.
Einzige Zierde in der kargen Landschaft sind die Kakteen. In Quilmes sind sie groß und mächtig, setzen sich inmitten der alten Mauern so richtig in Szene. Wer hier war, kann sich den Weg in den weiter entfernten Nationalpark Los Cardones getrost sparen.
Es ist Abend geworden und damit Zeit für eine Peña, ein traditionelles Essen mit Folklore. Empanadas und Tamales, danach ein zünftiges „Asado“ – der Inbegriff purer Fleischeslust mit einer gehörigen Portion Lebensgefühl. Die Grillplatte, auf der sich das Rindfleisch türmt, ist das Festmahl schlechthin für die Argentinier. Zu einer zünftigen Peña gehört auch die Musik, und dafür sind nicht nur die Musiker verantwortlich: Das ganze Lokal stimmt ein. Die Texte der Volkslieder kennt hier jeder, die Gäste hält es nicht auf den Sesseln, es wird getanzt, der Raum ist durchdrungen von der Seele des Landes.
Zum Asado nach Salta
Der Weg führt in Richtung der Stadt Salta – und durch eine Schlucht, die Quebrada de las Conchas. Es sind nur rund 200 Kilometer, aber wir planen mindestens vier Stunden ein: Los Colorados, Garganta del Diablo, El Obelisco, Anfiteatro – ein Schauspiel in Rot, Gelb und Weiß, vor allem im Lichte der auf- oder untergehenden Sonne. Die bizarren Felsformationen ziehen eine Menge auch einheimischer Touristen an.
Das Restaurant Bodeguero in Salta ist voll, aber im Weinkeller ergattern wir einen privaten Tisch. Der Küchenchef strebt danach, regionale Speisen auf hohem Niveau neu zu interpretieren. Das Vitello Tonnato, die gegrillten Austernpilze, der Auflauf mit Lamm und Süßkartoffeln – und zuletzt ein köstliches Eis aus Dulce de Leche, eine Karamellcreme.
Für den Kolonialstil ist die Provinzhauptstadt bekannt. Über Rathaus („El Cabildo“) und Plaza 9 de Julio führt der Stadtbummel zur Kathedrale. Als wir ankommen, wird gerade andächtig ein Christusbild hineingetragen. Es berührt, wie gerührt auch die vielen vor der Kirche stehenden Menschen sind, nicht wenigen rollen Tränen über die Wangen. Eine andere Form gelebter Frömmigkeit ist der nahe Erscheinungsberg. Hunderte von Menschen versammeln sich hier zu bestimmten Feiertagen.
Nach dem Karmeliterkonvent San Bernardo – der Schutzheilige Saltas – und der rot-gelben Basilika San Francisco warten weltlichere Gefilde. Höhepunkt ist der Mercado Artesanal, der Kunsthandwerksmarkt, etwas außerhalb der Stadt. Man wird von niemandem zu einem Kauf gedrängt, aber was man kauft, ist von höchster Qualität.
Ein Herz und eine Seele: Wir haben uns auf die Suche nach dem wahren Argentinien gemacht – und hier kommen wir endgültig an. Nicht weit von der Kunsthandwerks-Mühle liegt das Lokal La Casona del Molino. „Nichts ist organisiert, aber es gibt Musik und Tanz“, hatte man uns versprochen. Tatsächlich: Schon nach dem ersten Schluck Wein klingt es aus dem Nebenraum, und schon steht auch der Tischnachbar auf, greift zur Gitarre und singt. Die anderen Gäste singen mit. Im Hof brutzelt das Asado.
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Claudia Gigler