In schier endlosen Hainen ziehen sie sich rechts und links des Weges über die wellige Landschaft Andalusiens: Olivenbäume. Und als Antonio Bermúdez eine Zahl nennt, fällt seinen Begleitern die Kinnlade herunter. 66 Millionen. So viele der knorrigen Gewächse gebe es in der Region, teils seien sie 600 Jahre alt: „Die standen schon, bevor Kolumbus nach Amerika aufbrach.“

Das Gebiet in der südspanischen Provinz Jaén wird auch Meer der Oliven genannt, es ist eines der größten Olivenanbaugebiete der Welt. Bermúdez‘ Aufgabe ist es, seine Gäste durch dieses Meer zu navigieren – per Fahrrad auf der Vía Verde del Aceite. Der „Olivenölweg“ ist ein 128 Kilometer langer Wander- und Fahrradweg, der von Jaén bis ins Städtchen Puente Genil führt. Das liegt etwa 70 Kilometer südlich von Córdoba. Auf der Route erlebt man Spanien von seiner ruhigeren Seite, zumindest liegt sie abseits großer Städte und der oft trubeligen Küsten.

Bermúdez tritt in die Pedale. Manche seiner Gäste machen Tagestouren, die sie mit Wanderungen und Besichtigungen verbinden. In Jaén etwa locken eine mächtige Renaissance-Kathedrale und arabische Bäder, die zu den besterhaltenen der gesamten Iberischen Halbinsel gehören. Andere Radler gehen auf längere Teilstrecken und buchen einen Gepäck-Shuttleservice.

Das ursprüngliche Andalusien

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Als „besonders schön“ empfiehlt der Fahrrad-Guide den Streckenabschnitt ab Martos, der an einer Bergflanke gelegenen Kleinstadt mit mittelalterlichen Festungsbauten. Rund 60 Kilometer sind es von dort bis Cabra und 75 bis Lucena, zwei Städtchen am Rande der Bergkette Sierras Subbéticas. „Natürlich kann man die Tour als sportliche Herausforderung sehen und schnell zurücklegen“, sagt Bermúdez. Aber er rät seinen Gästen, sich Zeit zu nehmen, um das ursprüngliche Andalusien kennenzulernen. „Schließlich“, sagt er und grinst, „gibt es hier noch viel mehr außer Olivenbäumen zu entdecken.“

Etwa den Ort Alcaudete, erreichbar über einen sechs Kilometer langen Stichweg, wo sich eine der am besten restaurierten Festungen Spaniens erhebt, eine mächtige Burg des Calatrava-Ordens. Oder das Bergdorf Zuheros, dessen weiß getünchte Häuschen auf einem zerklüfteten Felsen über dem Fahrradweg thronen und das es regelmäßig auf eine Liste der „Schönsten Dörfer Spaniens“ schafft.

Gleich daneben liegt der Naturpark Sierras Subbéticas mit seinen schroffen Gipfeln, Wasserfällen und der Cueva de los Murciélagos, eine prähistorische Höhle, in der verschiedene Fledermausarten hausen. Sie steht Besuchern offen – ideal für etwas Abwechslung von der Pedalarbeit im Sattel.

Entlang stillgelegter Bahntrassen

Auf dem Olivenölweg strecken den Radlern Ponys ihre Köpfe entgegen, es liegt der Duft von frischem Rosmarin und Wildblumen in der Luft. Man passiert im Kollektiv blökende Schafsherden, Kuckucke rufen aus Baumkronen herunter. „Die Natur ist einer unserer größten Schätze“, sagt Bermúdez. Ein Allgemeinplatz, aber wahr. Wie man auf der Radtour immer wieder erkennt.

Die Vía Verde del Aceite ist eine der Vía Verdes – also der Grünen Wege in Spanien. Die Bezeichnung lässt nicht ihre Vergangenheit als ehemalige Eisenbahnstrecken erahnen. Vor rund 30 Jahren begann man, stillgelegte Trassen auch anderenorts in Wander- und Radwege umzuwandeln, die für motorisierte Fahrzeuge gesperrt sind. Dass die Züge keine großen Anstiege überwinden konnten, beschert Radreisenden heute recht ebene Strecken. Das macht sie für alle Altersklassen gut zu bewältigen, von Familien mit Kindern bis zu Senioren.

Die Vía Verde del Aceite führt über stillgelegte Bahntrassen
Die Vía Verde del Aceite führt über stillgelegte Bahntrassen © IMAGO/Zoonar.com/Tolo

Inzwischen sind es in ganz Spanien mehr als 3400 ehemalige Schienenkilometer, die man per Rad, aber auch zu Fuß entdecken kann, eingeteilt in rund 135 Wegabschnitte oder Verbindungsstrecken. Unter der Schirmherrschaft der Spanischen Eisenbahnstiftung wurde darauf geachtet, dass Spuren der zügigen Geschichte erhalten bleiben. In rund 125 ehemaligen Bahnhöfen befinden sich heute Lokale oder Pensionen, kleine Informationszentren, Museen oder Fahrradvermietungen.

Viadukte mit Aussicht

Auch an der Vía Verde del Aceite werden die Reminiszenzen gepflegt: In Doña Mencía, das bereits zur Provinz Córdoba gehört, ist das Bahnhofsgebäude heute eine Gaststätte. Daneben betreibt Antonio Camacho in einer ehemaligen Lagerhalle für Öl seinen Fahrradverleih. Entlang der Strecke wurde ab Ende des 19. Jahrhunderts hauptsächlich Olivenöl aus den Anbaugebieten von Jaén und Córdoba zu den Häfen des Mittelmeers transportiert. „Die letzte Bahnlinie wurde 1985 außer Betrieb genommen“, sagt Camacho. Seit der Jahrtausendwende wurden verschiedene Abschnitte der Schienenstrecke peu à peu zum Fahrradweg.

„Das Schöne ist“, sagt er, „dass Radfahrer unterwegs überall Spuren der Vergangenheit entdecken können.“ Im Bahnhof Cabra beispielsweise erinnern historische Züge an die Geschichte der Strecke. In anderen Abschnitten erwarten die Radlerinnen und Radler Tunnel, Eisenbahnbrücken und Viadukte aus dem 19. Jahrhundert – sie zählen zu den fotogensten Passagen. „Wer hoch oben über eine der stählernen Brücken fährt“, so Antonio Camachos Tipp, „sollte innehalten und einen Blick über die Landschaft schweifen lassen.“ Über Schluchten und Flüsse, über die zerklüfteten Berge und die weißen Dörfchen. Und vor allem über das Meer aus Olivenbäumen, das dem Weg seinen Namen gab und ihn bis heute prägt.