Es ist immer gut, zu wissen, woran man ist. Das weiß Reiseleiter Ali Sonay und dementsprechend bereitet er die zwanzigköpfige Reisegruppe auf die anstehende Radtour vor. Weil der Humor dabei nicht zu kurz kommen soll, werden Anstiege, zu „Ondulations“, auf Deutsch Wellen, und besonders steile Anstiege zu „Killer-Ondulations“. Wie die passionierten, aber möglicherweise nicht immer topfitten, Hobbyradler mit Letzteren umgehen sollen? Laut Sonay gibt es drei Möglichkeiten: „Ihr fährt nach oben, ihr steigt ab und schiebt das Rad nach oben oder ihr setzt euch auf den Boden und weint.“
Wie viele Touristen in den letzten 25 Jahren Variante drei gewählt haben, ist nicht bekannt. So lange bringt Ali Sonay Urlaubern bereits im Dienste des deutschen Reiseveranstalters „Inselhüpfen“ die Ägäis und ihre Inselwelt näher. Zu Land am Rad, zu Wasser auf einem Gulet, einem aus Holz gefertigten, dickbauchigen, zweimastigen Motor-Segler. Vom Heimathafen im türkischen Bodrum steuert das Schiff die Dodekanes Inseln Kos, Leros, Patmos, Lipsi und Kalymnos an, die zu Griechenland gehören. Die Besatzung spiegelt die Reiseroute wider: Sonay und die sieben Crewmitglieder sind Türken, Co-Reiseleiter Dimitris Kavvadas ist Grieche. Ein Miteinander, das angesichts der verfahrenen politischen Situation durchaus bemerkenswert ist: Die Türkei stellt die Souveränität Griechenlands über zahlreiche Ägäisinseln infrage, darunter die Dodekanes.
Beim ersten gemeinsamen Abendessen erzählt Sonay bei Moussaka, gefüllten Weinblättern, Saganaki (panierter Fetakäse) und Souvláki (Fleisch am Spieß) von seinem ersten Besuch in Griechenland vor Jahrzehnten und wie er dabei erkannte, dass Griechen und Türken viel gemeinsam haben. Er wollte original griechisch essen – und bemerkte beim Studium der Speisekarte, wie viele Speisen er aus der Heimat kannte, auch wenn manches dort einen anderen Namen hat.
Drama als Heilmittel
Essen ist auch Energie - und die ist wichtig für die „Killer-Ondulations“. Von allen griechischen Inseln wird Kos nachgesagt, am besten für das Fahrradfahren geeignet zu sein. Mountainbiker kommen dank eines breit ausgebauten Netzes an Trails auf ihre Kosten. Bevor es aber die Hügel hinter Kos-Stadt hinauf- und hinuntergeht, steht ein Besuch des Asklepion, der Wirkungsstätte des berühmtesten Sohnes der Insel, auf dem Programm: Hippokrates, dem sich selbst nach knapp 2500 Jahren die Ärzte unserer Zeit noch moralisch verpflichtet fühlen – obwohl seine Ansätze mit der modernen Medizin nur wenig gemein haben. Das weiß niemand besser als Eleni. „Er hat ausschließlich Alternativmedizin praktiziert und war der Auffassung, dass alle Krankheiten eine psychische Ursache haben“, erzählt die ältere Dame, die seit vielen Jahren Touristen durch die archäologischen Ausgrabungen führt. Dass Patienten im Asklepion mit Theaterstücken „behandelt“ wurden, mutet heute befremdlich an, die antiken Griechen glaubten jedoch, dass der Schmerz, den Zuseher bei den traurigen Enden ihrer Dramen verspürten, dabei helfe, Krankheiten aus dem Körper „auszuleiten“.
Eine weitere Weisheit des Hippokrates geht womöglich so manchem Reiseteilnehmer zähneknirschend durch den Kopf, wenn er am nächsten Tag den Hügel hinter der Stadt Lakki auf der Insel Leros erklimmt: Sport ist nicht notwendig, solange man genügend geht und sich dabei mit jemandem unterhält. Aber die Mühen lohnen sich. Am Weg bieten weiße Windmühlen die Kulisse für ein gelungenes Urlaubsfoto und am Gipfel locken die Überreste der mittelalterlichen Johanniter-Festung und ein Rundumblick über Insel und Meer. Der Namensgeber der Johanniter, der Heilige Johannes, soll einst auf der benachbarten Insel Patmos seine Vision von der Apokalypse empfangen haben soll. Heute befindet sich in der sogenannten „Offenbarungsgrotte“ eine kleine Kapelle, in der sich orthodoxe gläubige Christen und Touristen dicht an dicht drängen.
Unterwegs mit Delfinen
Viel los ist auch auf Kalymnos. Die Insel, die sich als Skelett aus Felsen und Bergen präsentiert, war früher als Heimat der Schwammtaucher bekannt, doch mittlerweile haben Artensterben und Überfischung die Schwammpopulation fast vollständig verschwinden lassen. Die Insulaner haben stattdessen eine neue Einkommensquelle gefunden: Seit der Jahrtausendwende hat sich Kalymnos zu einem Anziehungspunkt für Sportkletterer aus der ganzen Welt entwickelt. Besonders „Instagrammable“ ist dabei der Blick aufs blaue Meer aus einer Höhle heraus – von deren Decke in bester Spiderman-Manier ein Kletterer hängt.
Nach jeder Radtour empfängt einen die schwimmende Unterkunft im Hafen. Mit etwas Glück begleiten Delfine den Gulet während dieser die kargen Küsten entlangschippert. Vorbei an kleinen unbewohnten Eilanden um schließlich vor der beschaulichen Insel Lipsi vor Anker zu gehen. Einst als mythologische Heimat der Nymphe Kalypso bekannt, sind ihr die Touristenmassen bis heute ferngeblieben. Am weißen Sandstrand von Platis Gialos kommt beim Blick auf das türkise Wasser Karibik-Feeling auf. Anstelle von Menschen tummeln sich Ziegen an den kargen Hängen und die wenigen befestigten Straßen lassen sich in überschaubarer Zeit mit dem Rad erkunden. Dabei fällt einem die erstaunliche Konzentration an Kapellen ins Auge. Ali Sonay kennt den Grund: „Wenn man die Einheimischen danach fragt, nennen sie zuerst ihren tiefen Glauben als Begründung. Nach ein paar Gläsern Ouzo erzählen sie dir aber die Wahrheit: Für ein Grundstück, auf dem eine Kapelle steht, müssen keine Steuern bezahlt werden.“
Mit einer anderen erstaunlichen Konzentration, und zwar an Auszeichnungen, wartet das Restaurant „Manolis Tastes“ in der verwinkelten Altstadt oberhalb des Hafens auf. Die Speisekarte ist lang, die Portionen groß, die Preise leistbar. Tipps sind das Meeresfrüchte Risotto, der Honig-Oktopus oder der bunte Salat mit Ziegenkäse. Nichtsdestotrotz sollte ein wenig Platz im Magen frei bleiben - sich die Köstlichkeiten aus der Konditorei nahe der Anlegestelle entgehen zu lassen, wäre fast fahrlässig.
Denn wie sagte schon der gute, alte Hippokrates: „Den Leib soll man nicht schlechter behandeln als die Seele.“