Sicher bin ich mir nicht. Dafür war das Tier zu schnell wieder verschwunden. Könnte es tatsächlich ein Luchs gewesen sein, der da den Weg gequert hat? „Unwahrscheinlich“, sagt Sven Bökenschmidt, auch wenn der Gästemanager die Frage durchaus ernst nimmt. Er fragt, ob das Tier einen kurzen Schwanz hatte oder Pinselohren – typische Luchsmerkmale. Doch genau das war auf die Schnelle eben nicht zu erkennen zwischen umgestürzten Bäumen und dem Dickicht der Astgabeln.

Der Urwaldsteig macht seinem Namen an dieser Stelle in jedem Fall alle Ehre. Der Weg führt in Nordhessen unweit von Kassel auf knapp 70 Kilometern Länge einmal um den Edersee. Alte Buchen und Eichen wachsen hier an felsigen Steilhängen im Nationalpark Kellerwald-Edersee. Es sei ein Höhenweg, der das Wald-Wildnis-Erlebnis mit schönen Aussichten auf den See verbinde, schwärmt Bökenschmidt. „Der Urwaldsteig ist unser Aushängeschild und Zugpferd“, so der Touristiker.

Unterkünfte? Nicht immer so einfach

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Nur die Logistik ist hier manchmal ein Problem. „Mit den Unterkünften ist es nicht immer ganz einfach“, sagt Bökenschmidt. Nicht an Feiertagswochenenden und nicht in den Ferien – und schon gar nicht am südlichen Seeufer, wo das Kerngebiet des Nationalparks nicht weit ist und für eine Nacht eine Campingausrüstung mitgeschleppt werden müsste.

Daher setzt man hier im Tourismusmanagement auf öffentliche Fährverbindungen sowie Hol- und Bringservices durch die Gastgeber. Wer den ganzen Urwaldsteig gemütlich wandern will, sollte vier Etappen einplanen: „Das empfehlen wir am häufigsten, die Tagestouren sind 15 bis 18 Kilometer lang“, so der Gästemanager.

Los geht es entlang des Nordufers auf 17 Kilometern von Asel nach Nieder-Werbe. Der Weg gewinnt schnell an Höhe, wird schmaler und steiniger. „Das sind Blockschutthalden, bis zu 40 Meter mächtig und auf natürlichem Weg durch Frostsprengungen entstanden“, erklärt Bökenschmidt. Der Gästemanager hat in Geologie promoviert und kann auch zu dem Wall etwas erzählen, an den wir jetzt kommen und der nicht betreten werden darf.

„Die Hünselburg war eine keltische Fliehburg“, sagt er. Damals, vor mehr als 2000 Jahren, sei die Region sehr zersiedelt gewesen. Bei Gefahr habe man sich auf der Burg versammelt, mit Blick auf ein schönes Flusstal, das erst vor gut hundert Jahren aufgestaut wurde. Der Edersee zählt heute zu den größten Stauseen Deutschlands.

Bäume, Biker, Bäche und Beile

Urwalderlebnis und Kulturlandschaft gehen an dem See, der sich auf einer Karte betrachtet wie eine Schlange durch die Landschaft zu winden scheint, Hand in Hand. Das wird am zweiten Tag deutlich, 15 Kilometer stehen an, es geht nach Hemfurth.

Eben noch hörte man nur Bachrauschen und Vogelgezwitscher, da grollen vom Tal her Motorräder durch den Wald, Musik wummert. Die kurvenreiche Straße am Edersee zieht Biker an. Viele zieht es auch ins Schloss Waldeck mit seinem Museum, das sich den früheren Methoden des Strafvollzugs widmet – mit Richtschwert, Richtbeil und nachgebauten Zellen.

Nicht weit vom Schloss liegt die Edertalsperre. 400 Meter lang, zwischen 1908 und 1914 errichtet, 1943 von britischen Bomben zerstört und noch im selben Jahr durch Zwangsarbeiter wieder aufgebaut. Heute staut sie rund 200 Millionen Kubikmeter Wasser an, damit könnte der See knapp ein Jahr lang den Trinkwasserverbrauch Berlins abdecken. Ein Blickfang ist die Talsperre vor allem, wenn es dunkel wird – dann wird sie von großen LED-Scheinwerfern in ein buntes Licht getaucht.

Abseits dieses Kolosses der Moderne gibt es aber oft nichts als Wald und Wildnis zu erleben, etwa unterhalb des Schlossberges auf einem neuen Zubringer zum Ziegenberg. „Schwieriger Steig“, mahnt ein Schild. Der Weg führt entlang von Wildblumen und Brennnesseln, es geht über Baumstümpfe und Wasserquellen, bis die üppige Vegetation knorrig verwachsenen Buchen und kargen Sträuchern weicht: Der felsige Grund und die frühere Weidenutzung am Ziegenberg haben hier auch einen Vorteil – durch die Lücken im Bewuchs kann der unten gelegene Edersee immer wieder durchblitzen.

Wunder der Technik und der Natur

Es ist die Abwechslung, die den Reiz des Urwaldsteigs ausmacht – das wird auch am dritten Tag auf dem Weg nach Asel-Süd deutlich. Fast zurück zum Ausgangspunkt also, nur eben auf der anderen Seite des Sees, diesmal am Südufer.

Wer es sich ein wenig leichter machen will, kürzt die Etappe etwas ab und nimmt die Standseilbahn von Hemfurth zum Peterskopf hinauf – sie überwindet auf gut 900 Metern Strecke immerhin knapp 300 Höhenmeter. Unterwegs erklärt der Fahrzeugführer Geschichte und Funktion der Pumpspeicherkraftwerke am Edersee, die unweit der Seilbahn liegen und eine wichtige Funktion bei der Sicherung des Stromnetzes haben.

Es sind weitere technische Meisterwerke und damit krasse Gegensätze zu den Buchenwäldern westlich der Hochspeicherbecken der Kraftwerke. „Hier wurde nie Holz geschlagen – die Voraussetzung, um Unesco-Welterbe zu werden“, sagt Jochen Augustin. Er ist einer der Ferienhausanbieter, die Hol- und Bringdienste bieten. Unterwegs im Elektroauto erzählt er den Gästen, warum ihn 350 Jahre alte Buchen so in den Bann schlagen. „Das sind echte Überlebenskünstler.“ Im Nationalpark stehen viele davon, seit 2011 wird er mit vier anderen deutschen Buchenwaldgebieten als Weltnaturerbe geführt.

Im Buchenwald läuft man wie durch eine grüne Halle mit silbrigen Säulen, dann durch Hohlwege zwischen jungen Buchen, die auf ihre Chance zum Wachsen warten. Ich treffe auf einen Salamander, der nach Feuchtigkeit durstet.

Die Feuchtigkeit kommt dann im zweiten Teil dieser Tagesetappe, erst von oben mit Regen, dann von unten, als das Schuhwerk auf Matsch abrutscht und einige der rund 500 Quellen im Nationalpark umkurvt werden müssen. Da sind die seltenen Pfingstnelken in der Felswand des Bloßenberges ein Lichtblick und die Sitzbank an Bord der kleinen Asel-Fähre eine Erholung. Fährmann Otto Wilhelmi mag krumme Preise (Fahrrad: 1,65 Euro) und Kreuzfahrt-Parodien, als er am Ende ein paar Abschiedsworte ins imaginäre Mikrofon nuschelt.

Atlantis im Edersee

Wenn der Wasserstand niedrig ist, kann man hier eine Brücke mit vier Bögen sehen. Die meiste Zeit des Jahres allerdings steht sie unter Wasser, so wie auch die anderen Überbleibsel der alten Dörfer, die hier einst für den Stausee aufgegeben und an höher gelegenen Stellen wieder aufgebaut wurden. Gedenktafeln rund um den See und eine moderne Animation im Besucherzentrum erinnern an ihr Schicksal. Die Bauwerke auf dem Seegrund vermarktet die Tourismusgesellschaft unter „Edersee-Atlantis“.

Das letzte Teilstück am vierten Tag führt 18 Kilometer lang von Asel-Süd um die zwei letzten verbliebenen Seeschleifen nach Asel zurück, erst durch Wald, dann durch eine Kulturlandschaft. Es zieht sich ein wenig, der Rucksack scheint schwerer geworden zu sein, die Waldbilder gleichen sich und der Asphalt ermüdet. Wer will, nimmt die Fähre von Otto Wilhelmini one-way – und spart sich auf der Seeumrundung damit diese Etappe.

Mein Weg führt am Abschlusstag so aber auch am Nationalparkzentrum Kellerwald vorbei, am westlichsten Zipfel des Edersees. Hier gibt es Urwalderlebnisse durch Hightech, in einem 4D-Sinneskino wird man gerüttelt, beduftet und benässt. Im Film führt eine Wildkatze durch die Jahreszeiten. In einer Ausstellungsvitrine sehe ich aber eine andere Katzenart, die mir vom Start der Wanderung noch bekannt vorkommt: „Und es war doch der Luchs!“