Es ist 3 Uhr nachts, die Sicht ist klar und diverse Sternformationen leuchten vom Himmel, darunter das Kreuz des Südens. Wir sind bereits unterwegs in Richtung Piton de la Fournaise. Das Ziel: einen der aktivsten Vulkane der Welt noch vor Sonnenaufgang zu erklimmen. 2.632 Höhenmeter legen wir heute zurück, zunächst mit dem Auto, später zu Fuß – ausgestattet mit einer Stirnlampe, Wasser, Proviant und mehreren Schichten an Kleidung. Zu Beginn ist es noch kühl, die Gegend zappenduster. Kein Umgebungslicht leuchtet uns den Weg, nur der Mond erzeugt eine spannende Stimmung, als wir entlang des moderaten Wanderweges an schier irrational wirkenden teilweise braunen bis meist schwarzen Steinformationen vorbeispazieren.
Langsam wird es heller, wir pausieren vor beeindruckenden Lavafeldern aus erkalteten Magmaströmen und entscheiden uns zwischen einer Vielzahl an Wegen hinauf auf diesen majestätischen Berg im Südosten von La Réunion. Nach etwa drei Stunden kommen wir am Gipfel an und werden mit einem atemberaubenden Blick über den Indischen Ozean belohnt. Vor uns liegt die Küste dieser Insel, die als Teil von Frankreich auch zur EU gehört. Wiewohl die Hauptstadt Paris stolze 9.400 Kilometer nordwestlich liegt und die entsprechende Flugverbindung mit rund elf Stunden als längster Inlandsflug der Welt gilt.
Blick in den 300 Meter tiefen Krater
Doch all das vergisst man auf dem Piton de la Fournaise. Viel faszinierender ist der Kraterrand an sich, von dem aus man in die fast 300 Meter tiefe trichterförmige Öffnung blicken kann. Der Vulkan bricht nach wie vor regelmäßig aus, wie Wanderguide Manal Chourafa erzählt. „Es ist jedes Mal ein spektakuläres Naturphänomen und verändert die Landschaft ständig“. Etwa 47 Ausbrüche wurden alleine seit 1950 registriert. „Man muss sich das wie auf Hawaii vorstellen – es tritt flüssige Lava aus, die in Richtung Meer rinnt“, sagt die Expertin. Fontänenartige Gasexplosionen gibt es hier nicht. Die Faszination der geologischen Kräfte können Wanderer trotzdem genießen. Sofern das Wetter mitspielt.
Für das Eiland, in dem der Euro wie am französischen Festland offizielles Zahlungsmittel ist, gelten April bis November als optimale Reisemonate. Im europäischen Winter, dem Sommer auf der Südhalbkugel, treten durchaus Zyklone auf, die nicht selten erhebliche Sachschäden verursachen – zwischen Dezember und März ist die Insel für Reisende also nicht zu empfehlen.
Drei Millionen Jahre alte Lava-Landschaft
Denn bei Wind und Wetter lässt sich La Réunion, das in etwa so groß ist wie Vorarlberg, nicht gut erkunden. Schließlich gilt die Insel vor allem für Wanderer und Naturliebhaber als perfekte Destination. Auch, weil mit dem Piton des Neiges der höchste Berg des Indischen Ozeans zu einer Erkundung auf bis zu 3.070 Metern einlädt. Er ist der zweite, aber mittlerweile erloschene Vulkan der Insel. Seine Beisteigung entlang teils steiniger, teils verwunschener grüner Wege gilt als durchaus anspruchsvoll. Die Umgebung ist trotzdem faszinierend und lässt Kraft der Lava erahnen, die vor rund drei Millionen Jahren zwei Drittel des heutigen La Réunion formten.
Beeindruckend sind in diesem Zusammenhang auch die Talkessel, die die gesamte Insel, östlich von Madagaskar gelegen, prägen. Besonders atemberaubend ist der Cirque de Mafate. Dieser abgeschiedene Kessel ist ausschließlich zu Fuß oder per Hubschrauber erreichbar, was ihn für Wanderungen besonders attraktiv macht. Eingebettet in die wilden Berge erwartet Besucher hier eine einzigartige Kulisse aus steilen Felswänden, üppigen Wäldern und malerischen Dörfern. Bis auf das Zwitschern der Vögel ist hier wenig zu hören – abgesehen vom einen oder anderen Helikopter, der die faszinierende Landschaft vorwiegend am Vormittag überfliegt. Der Talkessel ist also auch von oben ein sehenswertes Abenteuer, während man zu Fuß die unberührte Natur besonders genießen kann. Denn nur wenige Touristen verirren sich hierher, obwohl zahlreiche Wanderwege den Talkessel durchziehen und die verschlafenen Dörfer verbinden.
Unterwegs in faszinierenden Talkesseln
Die Insel durchziehen aber auch zwei andere Talkessel – etwa der Cirque de Cilaos. Die Gegend rund um das nette Städtchen Cilaos ist bekannt für seine Thermalquellen. Dorthin geht es über die sogenannte „Straße der 400 Kurven“, die wiederum eine aufregende Fahrt mit atemberaubenden Ausblicken bietet. Eingebettet in eine dramatisch wirkende Berglandschaft zwischen steilen Hängen und vor allem nachmittags tief hängenden Wolken, „bietet er mehrere Wanderwege und beeindruckende Panoramen“, wie der ortskundige Touristenführer Loic Ribollet weiß. Nicht umsonst startet hier auch der berühmte Aufstieg zum Piton des Neiges. „Ansonsten ist Cilaos berühmt für die Stickerei und den Weinanbau“, sagt der Experte. Wobei der Rebensaft für den mitteleuropäischen Gaumen eine ungewöhnlich süße Charakteristik aufweist und mit Weinen vom französischen Festland kaum vergleichbar ist.
Viel Zeit für den Wein bleibt aber ohenhin nicht – weiter geht es zum Cirque de Salazie, den grünsten der drei Talkessel. Er ist berühmt für seine üppigen Wälder und beeindruckenden Wasserfälle, ist besonders leicht zugänglich und bietet trotzdem wunderschöne Wanderwege. Wer die Aussichtspunkte nutzt, kann die von der Erosion geformten pflanzenüberwucherten steilen Wände in Ruhe begutachten. Und versteht, warum die Hochebenen und Talkessel der Insel, einschließlich Cirque de Mafate, Cilaos und Salazie, Teil des Unesco-Weltnaturerbes sind.
La Réunion – eine Multikulti-Insel
Zwischen der Flora und Fauna befinden sich immer wieder kleine Dörfer. Hier scheint die Zeit stillzustehen, was Touristen durch die enorme Gastfreundschaft vieler Einheimischer bemerken werden. Und das, obwohl (oder gerade weil) La Réunion aus historischen Gründen eine besonders multikulturelle Gesellschaft aufweist. Viele Bewohnerinnen und Bewohner stammen vom französischen Festland und sind damit europäisch geprägt. Wichtige Gruppen machen auch die Nachkommen indischer Gastarbeiter aus, die im 19. Jahrhundert auf dieses Eiland kamen, vorwiegend um auf Zuckerrohrplantagen zu arbeiten. Zur selben Zeit holte man auch viele chinesische Einwanderer auf die Insel, deren Know-how vor allem in der Wirtschaft essenziell war. Schon ab der französischen Besiedelung im 17. Jahrhundert waren außerdem viele Sklaven aus Afrika oder Madagaskar auf der Insel, deren Nachfahren die Kultur des Landes nach Abschaffung der Sklaverei 1848 entscheidend beeinflussten.
All das prägt die Kultur bis heute. Hinduistische Feste werden also genauso zelebriert wie katholische Feiertage. Dabei setzen die Einwohner auf Toleranz und Vielfalt, verbunden meist auch quer über die Religionen durch Paraden mit Musik, Tanz – und Essen. Kein Wunder hat die Vielfalt der Kulturen auch Auswirkungen auf die Kulinarik. So stammt etwa aus Frankreich die Liebe zu Crème brûlée und Baguettes, aus China die Zugabe von Chili und Linsen wiederum – hier mehrheitlich als Beilage – sind in Afrika verbreitet. Die kreolische Küche setzt stark auf Eintöpfe, überwiegend serviert mit Reis. Regelmäßig aber ergänzt durch sogenanntes „Rougail“, einer scharfen Sauce aus Tomaten, Zwiebeln, Ingwer und Chilischoten. Berühmt sind auch Samoussas als Vorspeisen oder Snacks – „das sind frittierte Teigtaschen mit würziger Füllung oder Käse“, klärt Reiseleiterin Céline Bianchi auf.
Baden ist nur innerhalb des Riffs möglich
Samoussas sind es auch, die Einheimische gerne mit an den Strand nehmen. Wobei: „La Réunion ist nicht die typische Badeinsel“, gibt Bianchi zu bedenken. Zwar bietet die Lagune von L’Ermitage ein etwa 22 Kilometer langes geschütztes Korallenriff mit Möglichkeiten zum Schnorcheln, Schwimmen, Stand-up-Paddeln oder Kajakfahren. Ein reiner Urlaub am Wasser ist hier trotz zahlreicher Strände nicht empfehlenswert. Da rund um die Insel eine Vielzahl an Haien lebt, sind die meisten Meerzugänge nicht sicher. „Daher müssen Surfer auch trotz fantastischer Wellen Geräte tragen, die elektromagnetisches Feld aufbauen, das Haie abhalten soll“, sagt Bianchi. Badeurlauber, selbst Einheimische, würden daher oft die günstigen Flüge ins etwa 230 Kilometer entfernte Mauritius nutzen. Auf La Réunion setzen viele stattdessen auf den fernen Blick in Richtung Ozean von einer der vielen schwarzen Vulkanstein-Klippen aus. Oder reiten mittels Katamaran einen Nachmittag in Richtung Sonnenuntergang auf den Wellen. Mit viel Glück sieht man bei diesem Ausflug, der von Agenturen vor Ort angeboten wird, auch Delphine.
Nicht zuletzt, weil die Population vieler Meerestiere in den letzten Jahren wieder steigt. Frankreich hat, vor allem an der Westküste von La Réunion, mehrere Meeresschutzgebiete eingerichtet. „Das soll die Biodiversität steigern und auch die Forschung, vor allem Maßnahmen gegen die Korallenbleiche, vorantreiben“, lässt Bianchi wissen. Daher sind die Riffe auch Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Forschung, die darauf abzielt, die Auswirkungen des Klimawandels auf die Ökosysteme zu verstehen und Lösungen für ihren Schutz zu entwickeln. In der Lagune ist daher das Fischen genauso verboten wie motorisierter Bootsverkehr. Stattdessen bemühen sich Meeresguides um Aufklärung bei geführten Touren.
Den Vulkan unter der Erde erkunden
Um Aufklärung geht es aber nicht nur unter Wasser, sondern auch unter Tag. Wer die eingangs erwähnten Vulkane von oben erkundet hat, der kann sich auch in Lavatunnel wagen, die von den Ausbrüchen des Piton de la Fournaise geformt wurden. Diese unterirdischen Höhlen und Tunnel sind aber nur für besonders abenteuerlustige Besucher zu empfehlen. Nicht zuletzt deshalb, weil man teils durch die engen und feuchten Gänge kriechen muss, ehe man sich kurz darauf in riesigen Höhlen wiederfindet. Ermöglicht werden diese Führungen nur durch erfahrenen Tourleiter wie Roby Soriano, der gekonnt durch die geheimnisvollen Gänge streift, die von glühender Lava geschaffen wurden: „Bitte haltet euch immer mit den Händen an der Decke fest“, klärt der Experte auf. Ansonsten stoßt man sich in der unebenen, unbekannten Welt leicht den Kopf. Immerhin: Helm und Knieschoner hat Soriano zuvor ausgeteilt. Geboten werden beeindruckende Formationen in einer durchaus mystischen Atmosphäre, bei denen man die verschiedenen Schichten und Strukturen der erkalteten Lava bestaunen kann.
Wem das zu viel ist, der kann sich über den Tunneln ein Bild der vulkanischen Kraft machen. Der sogenannte Grand Brûlé ist ein beeindruckendes Lavafeld an der Südostküste von La Réunion – es wurde durch die wiederholten Ausbrüche des Piton de la Fournaise geformt. Entstanden ist eine raue und karge Landschaft, die sich bis zum Meer erstreckt. Dabei bieten sich an manchen Stellen Blicke auf durchaus bizarr anmutende Formen und Strukturen, die gleichsam eine irrsinnige Faszination auslösen. Doch Achtung: Die unterschiedlichen Lava-Schichten können teils porös sein und abbrechen, teils sind sie hingegen besonders spitz und damit gefährlich. Lange Hosen und festes Schuhwerk sind bei Wanderungen im Lavagebiet also unumgänglich.
Ein Traum für exotische Nutzpflanzen
Doch die erkalteten Magmamassen prägen nicht nur direkt das Bild von La Réunion. Auch indirekt haben sie enorme Auswirkungen – in Kombination mit dem tropischen Klima sind sie ein wahrer Segen für die Nutzpflanzenvielfalt der Insel. Allen voran für die hochwertige Bourbon-Vanille, die aus der Orchidee Vanilla planifolia gewonnen wird und seit Jahrhunderten ein wichtiger Wirtschaftszweig ist. Ähnlich wie der Anbau von Zuckerrohren, die nicht nur für die die Zucker- und Saftgewinnung, sondern in weiterer Folge für die Rumproduktion von Bedeutung ist. Ananas und Mangos werden genauso geerntet wie Bananen, Kokosnüsse und zahllose Gewürze wie Zimt, Nelken und Muskat.
Die Tropen lassen sich auch in Form von Passionsfrucht, Guave, Papaya und Sternfrucht schmecken, die man oft auch bei Händlern am Straßenrand kaufen kann. Ungewöhnlich ist die Vielfalt an Litschis und vereinzelt auch Kakao. Auffällig hingegen Chuchu, ein grünes, birnenförmiges Gemüse mit mildem Geschmack, ähnlich einer Süßkartoffel. Es wuchert in höher gelegenen Gefilden der Insel – wird aber in unzähligen Varianten verzehrt: roh und gerieben in Salaten, gekocht in Eintöpfen oder gefüllt und überbacken.
Gut, dass auch Koffein reichlich vorhanden ist. Die Landwirte produzieren hochwertigen Arabica-Kaffee, der unter dem Namen „Bourbon Pointu“ bekannt ist. Diese Sorte wird bei den Einheimischen für ihren feinen Geschmack und die geringe Säure geschätzt. Tatsächlich zieht er auch jeden Besucher in seinen Bann – in Lokalen wahlweise übrigens mit Vanilleextrakt verfeinert. Manal Chourafa brachte die Bohnen und ihren mobilen Kaffeekocher bei unserer Wanderung mit auf den Piton de la Fournaise. Dazu gab es selbst gemachtes Bananenbrot. Das perfekte Frühstück nach dem nächtlichen Aufstieg. Kraftspender und gleichzeitig Muntermacher – ganz einfach, aber unglaublich köstlich. Und dabei so typisch La Réunion. Na, wenn das nicht nach mehr schmeckt ...
Die Reise wurde unterstützt von Atout France, La Réunion, Air France und Raiffeisen Reisen.