Bretagne und Normandie. Sie sind nicht nur eingefleischten Frankreich-Fans als Urlaubsjuwele ein Begriff. Aber kennt man den nördlichsten, an Belgien grenzenden Zipfel des Landes? Jenen, der über den Ärmelkanal ganz nah mit Großbritannien liebäugelt? Eventuell dann, wenn man den bislang in der Grande Nation meistbesuchten französischen Kinofilm gesehen hat: „Willkommen bei den Sch’tis“, dem oft mit etwas Argwohn beäugten Völkchen, das in Teilen der Region Hauts-de-France die Mundart Ch‘ti spricht.
„In diesem Restaurant wurde eine der Szenen gedreht“, lässt Guide Marie Claude vor einer hübschen Backsteinfassade im Herzen von Lille, der nördlichsten Metropole Frankreichs, mit sichtlicher Freude wissen. War die herzerwärmende Komödie doch beträchtlich für die steigende Bekanntheit und Sympathie für die Region und deren lange im touristischen Dornröschenschlaf verweilende Hauptstadt mitverantwortlich. Ein Schlendern durch die charmanten, kopfsteingepflasterten Gassen und über die stolzen Plätze der heute quirligen Studenten- wie Kulturstadt kommt dem Blättern in einem hübschen Bilderbuch nahe.
Niedliche Häuser bis imposante Bauten im üppigen flämischen Stil des Barocks spiegeln die Glanzzeiten der Stadt als Teil der einstigen Grafschaft Flandern wider, die 1667 schließlich ans Königreich Frankreich fiel. Ein G’riss um sie gab es auch in Folge immer wieder. Davon zeugen bis heute Kanonenkugeln österreichischer Truppen, die bei einem Eroberungsversuch während der Französischen Revolution in eine Fassade einschlugen.
Wo schon Charles de Gaulle naschte
Ein G‘riss mit größten Erfolgschancen auf eine süße Sünde gibt es bis heute tagtäglich in der legendären Pâtisserie Haute Couture „Méert“. Seit über 150 Jahren werden hier unwiderstehliche feine „Gaufres“ (Waffeln) aus der Backstube gezaubert. Auch der wohl berühmteste Sohn der Stadt, der legendärste französische Politiker des 20. Jahrhunderts, Charles de Gaulle, pilgerte als Kind mit seiner Oma zum Gourmettempel und ließ sich später diese süßen Ikonen in den Präsidentenpalast liefern.
Seine Spur zieht sich weiter an den wohl bekanntesten Ort Nordfrankreichs, in die Hafenstadt Calais, das Sprungbrett nach Großbritannien. Während es sich bei den Zufahrten zum Fährhafen und Eurotunnel abspielt (wenn auch nicht mehr so intensiv wie vor dem Brexit), wirkt der Platz vor dem imposanten Rathaus wie von den Reisenden vergessen. Die Ruhe tut gut. Nicht nur für den Anblick der Fassade dieses wahren Schmuckstücks flämischer Renaissance-Kunst, hinter der Charles de Gaulle einst in den Bund der Ehe trat, viel mehr noch, um in stiller Ehrfurcht „Die Bürger von Calais“ zu bewundern. Die Bronzeskulpturengruppe jener Helden der Stadt, die sich im 14. Jahrhundert opferten, um die Bevölkerung vor der englischen Besatzung zu retten, eroberte mit dem hier ersten Guss des Künstlers Auguste Rodin bald ihren fixen Platz in der Kunstgeschichte. Elf weitere Originalgüsse folgten und sind weltweit verstreut. Der künstlerische Ausdruck menschlichen Leids berührt zutiefst.
Entlang der Opalküste
Inspirationen anderer Art fanden impressionistische Maler des 19. Jahrhunderts in den faszinierenden Farbspielen der dramatisch schönen, rund 140 Kilometer langen Küste am Ärmelkanal. Sie entfaltet ihre volle Schönheit südlich von Calais. Das Weiß der breiten Sandstrände im Wettstreit mit jenem der schroffen, steilen Klippen, die sich wie ein Pendant zur in Sichtweite entfernten britischen Kreideküste präsentieren, das zarte Orange der Dünen, das changierende Grün der Felder im Hinterland, das in allen Blau- bis Silbernuancen schillernde Meer, auf dem sich heute ein Ballett an Schiffen durch die Meerenge schlängelt.
Auf Vorschlag eines Künstlers wurde dieser von der Natur gesegnete Fleck Erde damals sehr treffend nach einem bunt schimmernden Stein Opalküste getauft. Die 134 Meter hohe, nördlichste Steilklippe Frankreichs Cap Blanc-Nez ragt wie eine Nase in den Ärmelkanal. Der Blick von hier aus auf dessen rund zehn Kilometer entfernte kleine Schwester, das Cap Gris-Nez, lässt Hochgefühle aufkommen. Und zugleich die Feststellung: Welch ein Glück, dass an diesem landschaftlichen Juwel, das übrigens während der englisch-französischen Kriege sowie während der beiden Weltkriege stets im strategischen Rampenlicht stand, der Massentourismus noch nicht angekommen ist.
Bananenförmige Seehunde
Man darf sich freuen und die „Unbekannte Schöne Frankreichs“, wie die Côte d’Opale sich preisen lässt, in Ruhe genießen. Etwa bei der Wattwanderung in der Somme-Bucht. Barfuß oder mit Gummistiefeln geht es bei Ebbe über Schlick und Sand, gelassen darf man sich dem Schauspiel der hier besonders ausgeprägten Gezeiten hingeben. Denn Natur-Guide Maxim sorgt für Sicherheit. „Das rasche Hereinbrechen der Flut kann leicht unterschätzt werden, da braucht es Erfahrung“, lässt er wissen, um dann gleich in das essbare „Menü“ der Salzwiesen einzuführen: Es sprießen Obione als „Chips de la Mer“ oder auch Salicorne als Meeresspargel aus dem Boden. Und plötzlich wird klar, wofür das Fernglas gedacht ist: Draußen auf den Sandbänken aalen sich Seehunde in der Sonne. Nein, sie posieren. Und zwar in entzückend komischer Bananenform, um ihre niedlichen Köpfe und Flossen warmzuhalten.
Das Fernglas heißt es gleich in der Hand behalten, denn auch andere Tiere fühlen sich hier pudelwohl. Im nahen Vogelreservat Parc du Marquenterre, der für Zugvögel wie Dauergäste paradiesischen Lebensraum bietet, wurden bis dato über 300 Arten gesichtet. Scharen von Störchen und Löffelschnäblern, die in den Baumkronen korsischer Pinien mit viel Geklapper ihre Nester hüten, machen den bananenverrenkenden Seehunden Konkurrenz. Und für alle, die es über die Meeresbewohner genauer wissen wollen: In Boulogne-sur-Mer lassen sich im Nausicaá, dem größten Meeresaquarium Europas, die Tiefen der Ozeane mit 100.000 ihrer Bewohner unvergesslich erkunden.
Macarons und Macron
Weiter im Landesinneren wartet ein nächster Superlativ: die Kathedrale von Amiens. Als Ausdruck höchster gotischer Baukunst ist sie flächenmäßig die größte des Landes, Notre Dame von Paris passt theoretisch gleich zweimal ein. „Man könnte allein vor dem Portal Stunden verbringen“, schwärmt Guide Doreen. Doch die hübsche Stadt, die nach schweren Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg seine mittelalterlichen Häuser wieder im Original aufbaute, bietet noch mehr. „Jules Verne ist unser Goethe“, verweist Doreen auf den großen Schriftsteller, der hier seine Wahlheimat gefunden hatte. Es lässt sich gütlich auf seinen Spuren wandeln.
Und zwischendurch heißt es bei einem süßen Gedicht Halt machen: den hierzulande berühmten „Macarons von Amiens“ in der Traditionsconfiserie Trogneux. Der Schwiegersohn des Hauses erfreut sich noch größerer Berühmtheit: Präsident Emmanuel Macron ist wie seine Frau hier geboren. Der hohe Norden Frankreich arbeitet sich vor ins Rampenlicht.
Regina Rauch-Krainer