Es fängt mit der Luft an: Im Februar ist sie mild in Neapel. Mit ein bisschen Glück sind ein paar Sonnentage und tagsüber sogar 15 Grad drin. Über die Winterkleidung der Italiener wundert man sich. Daunenjacken und Fellkapuzen wirken übertrieben. In den engen Gassen der Altstadt riecht es nach Frittiertem, Kaffee und Zucker. „Sfogliatelle calde“ locken an jeder Ecke, warmes Gebäck mit süßer Ricottafüllung. Es gibt sie aufgefächert als Blätterteig (ricca) oder rund als Mürbeteig (frolla) – bei „Pintauro“ in der Altstadt etwa. In der Pasticceria soll die neapolitanische Spezialität 1785 erfunden worden sein.
Leckereien locken in Italiens drittgrößter Stadt (nach Rom und Mailand) an jeder Ecke, aber auch Kunstschätze, ein altertümliches unterirdisches Labyrinth und in der Vorsaison eine entspannte Atmosphäre. Was sich auch daran zeigt, dass man nirgends Schlange stehen muss. Außer an beliebten Restaurants, denn Essen hat in Italien immer Hochsaison. Typisch sind in Neapel auch Zepolle, das sind frittierte Teigbällchen mit süßen Cremes, oder Babà, also Hefekuchen mit Rumsirup. Geradezu kultisch verehrt werden „fiocchi di neve“, zu Deutsch Schneeflocken. In der Pasticceria-Kette „Polpella“ hängt eine Anzeigetafel, die live anzeigt, wie viele der kleinen Brioches mit Ricotta und Staubzucker schon verkauft wurden.
All die Namen muss man sich nicht unbedingt merken: Am Ende entscheidet das Auge. Lucia di Lullo reicht freundlich das Gebäckstück über den Tresen, das man am schönsten fand. Die Neapolitanerin arbeitet seit 1986 im „Gran Caffè Cimmino“ im Stadtteil Chiaia nahe dem Zentrum. „Crema e amarene“, erklärt sie die Füllung des noch warmen Teilchens, eine Art Kirschcreme. Und welche der Köstlichkeiten isst sie selbst gern? Ein resigniertes Lachen. Di Lullo erklärt, dass sie auf Gluten und Laktose verzichten muss. Für Allergiker und Menschen mit Unverträglichkeiten ist Neapel vermutlich deprimierend. Und für Menschen, denen ihre Taille etwas bedeutet, auch.
Küche der armen Leute
„Frittata di maccheroni“, „crocchè di patate“, „pizza fritta“: Was die herzhafte Küche betrifft, könnte man ebenfalls etliche Namen aufzählen oder grob zusammenfassen, dass es sich um Kohlenhydrate jeglicher Form handelt, fast alles frittiert. Wer im Winter auf Trostessen setzt, ist in Neapel richtig. „Cucina povera“, Küche der armen Leute, wird das kalorienreiche Essen genannt, das überall als Streetfood zu haben ist. Aber die Stadt mit seiner Million Einwohner am Golf von Neapel ist natürlich mehr als das. Die Auswahl reicht von Pizza mit eingebackenen Pommes über Meeresgerichte jeglicher Art bis hin zur Pasta mit Kaninchen von der benachbarten Insel Ischia.
Die Küche ist so vielfältig wie die Stadtteile. Scampia und Secondigliano im Norden sind Mafia-Hochburgen und seit Roberto Savianos Bestseller „Gomorrha“ über Italien hinaus bekannt. Meiden sollten Touristen auch die Gegend um den Frachthafen. Posillipo, Vomero oder Chiaia im Westen gelten als wohlhabend, die östlichen Bezirke als eher arm.
Sanità, ein bekanntes Viertel in der Altstadt, ist ein guter Ausgangspunkt für einen Besuch des Museo di Capodimonte mit Gemäldegalerie. Der Aufstieg auf den Hügel über Treppen dauert kaum zwanzig Minuten. Vorbei geht es an Altären mit Heiligenbildern und Frauen, die vor der Haustür fegen. Es riecht nach Chlor und Waschmittel – Süditalien wird ein Putzfimmel nachgesagt. Dazwischen Halbstarke auf Rollern. Es wird niemals gebremst, als Warnung aber kurz gehupt.
Der Fußballgott hat alles im Blick
Und immer sieht Maradona zu. Der argentinische Fußballer, der von 1984 bis 1991 für den SSC Neapel kickte, prägt das Stadtbild. Als Graffiti, T-Shirt, Souvenir. In Sanità hängt er zwischen Bud Spencer und Sophia Loren an einer Leine mit Fotos, aufgespannt zwischen den Häusern.
Oben ist es ruhig. Für den Eintritt ins Museum Capodimonte, einstiger Sommersitz der Bourbonen, muss man im Winter nicht anstehen. Ein ganzer Tag lässt sich dort verbringen: Gemälde von Michelangelo oder Caravaggio? Altes Porzellan? Oder die Pistolensammlung früherer Herrscher? Eine Tafel erklärt, dass Waffen im 18. Jahrhundert für Männer eigentlich auch nichts anderes waren als für Frauen Schmuck. Draußen im Park rund um das Museum sind in der Wintersonne umgeben von Palmen und Grün Gärtner und Jogger aktiv. Zwei ältere Männer sitzen auf einer Bank und diskutieren. Das Schöne an Neapel im Frühjahr ist: Sehenswürdigkeiten teilt man mit den Einheimischen.
Die Auswahl ist ähnlich überfordernd wie beim Essen: Die gesamte Altstadt ist Unesco-Weltkulturerbe. Das Zentrum bildet die Piazza del Plebiscito mit Blick auf die Basilika San Francesco di Paola. In der Nähe liegen die Einkaufsmeile Galleria Umberto I und die berühmte Oper Teatro San Carlo. Auch nicht weit weg: der Palazzo Reale, einst Sitz der Könige. Die Wohnräume der Bourbonen-Regenten und später die des Hauses Savoyen kann man besichtigen. Neapel gehört erst seit der Gründung des Nationalstaats 1861 zu Italien. Vorher herrschten vor allem Franzosen und Spanier.
Im Untergrund lebt ein Geist
Gegründet aber wurde Neapel von den Griechen. Napoli Sotterranea, Neapels Untergrund, heißen Führungen durch ein 120 Kilometer langes System von Gängen, das von den Griechen zur Wasserversorgung angelegt wurde. Im Zweiten Weltkrieg dienten sie der Bevölkerung als Schutz vor Bomben. Heute sind nur noch fünf Prozent der Gänge begehbar.
Der Erlös der Führungen kommt einem Verein zugute, der das unterirdische Neapel wieder erschließen will. Präsident ist Salvatore Quaranta, der vor dem Abstieg erklärt, es gehe nun vierzig Meter in die Tiefe – über 187 Treppenstufen. Die Gänge sind nichts für Klaustrophobiker, denn manche Passagen sind so schmal und niedrig, dass man nur geduckt vorankommt. Führer Alessandro Fusaro weiß abzulenken. Mit einer Taschenlampe leuchtet er auf eine Stelle im Gemäuer und sagt: „Marlene Dietrich.“ Das Konterfei der legendären Schauspielerin erscheint, eine alte Zeichnung aus Kriegszeiten.
Bei der einstündigen Tour berichtet der 38-Jährige auch von den „pozzari“ – Männern, die die Wasserleitungen reinigten und über die Häuser der Bewohner in die Tiefe gelangten. Weil so öfter mal etwas verschwand (und später wieder auftauchte), waren die abergläubischen Neapolitaner überzeugt, im Kanalsystem lebe ein Geist. So entstand die Legende vom kleinen Mönch „il munaciello“, der Wünsche entgegennahm. Heute gibt es ihn als Figur im Souvenirshop.
Ausblick auf den Vesuv
Und das Meer? Parallel zur Strandpromenade führt der Park Villa Comunale zum Aquarium – es ist eines der ältesten Europas. Die dortige Unterwasserwelt haben Besucher an einem Wintertag für sich. „Pomodoro di mare“ heißt eine Seerose, „patata di mare“ eine Seescheide. Tomate des Meeres, Kartoffel des Meeres — auch sinnbildlich spielt Essen in Italien eine große Rolle. Vom Aquarium aus lässt sich Chiaia gut erkunden, das Viertel, das für Luxusboutiquen steht. In den Schaufenstern liegen teure Dinge aus, und die Hunde tragen Jacken. Das Geld, das hier im Umlauf ist, fehlt offenbar der Standseilbahn: Der Funicolare ist mal wieder „fuori servizio“ – außer Betrieb. Also zu Fuß nach oben.
Vom Castel Sant‘Elmo ist der Blick auf Neapel und den nahegelegenen Vesuv am schönsten. Es ist eines von drei Schlössern in der Stadt aus Tuff, also Vulkangestein. Wer keinen Eintritt für das Panorama zahlen möchte, kann sich mit dem Ausblick am Kloster Certosa di San Martino begnügen. So liegt die riesige Stadt im Winterlicht vor einem und wirkt beinahe friedlich. So ruhig sei es zum Jahresbeginn nur bis etwa Mitte Februar, sagt Sara Guarino, die in der stylishen „Ba-Bar“ an der Piazza Santa Maria La Nova nahe der Haupteinkaufsstraße Via Toledo arbeitet. Ganz anders als im Oktober, dem zuletzt trubeligsten Monat.
Egal zu welcher Jahreszeit: Vor Ort ist der Genuss einer echten neapolitanischen Pizza Pflicht, alles andere ein kulinarisches Versäumnis. Es ist Sonntagmittag, und – endlich – im dritten Lokal ist ein Platz frei. An den Tischen Einheimische, viele Familien mit Kindern, Reste auf den Tellern. Irgendwie beruhigend, dass selbst die Italiener den typischen dicken Pizzarand nicht schaffen.