An Schlaf ist nicht zu denken – obwohl der Körper nach einem mehrstündigen Marsch durch weichen Wüstensand ausreichend müde wäre. Aber der Geist ist hellwach, weil mit endlosem Staunen beschäftigt. Das Zelt bleibt diese Nacht unbewohnt, Schlafsack und Liegematte müssen reichen. Über einem spielt das Sternenkino eine Premiumvorstellung. Man kann den Kopf wie ein Uhu um 360 Grad drehen: Überall funkelt und glitzert es, als hätte jemand eine überdimensionale Weihnachtsbeleuchtung in den nachtschwarzen Himmel genagelt. Die Augen leuchten, fallen aber irgendwann doch zu.
Geweckt wird man am nächsten Tag von etwas, wofür es kein passendes Wort gibt. Ist es ein Gurgeln? Ein Grunzen? Ein Rülpsen? Oder eine Mischung aus allem? Die Laute, die Dromedare zum Morgengruß tief aus ihrem Schlund heraufbefördern, wie sie mit den Zähnen knirschen, dazu die beschwörenden Anweisungen ihrer Besitzer, während sie Gepäck, Küchenutensilien und Zelte auf sattelähnlichen Tragegestellen fixieren: Dieser Soundtrack der Wüste zaubert ein Lächeln ins Gesicht. Es verstärkt sich, wenn sich die Dromedare träge in Bewegung setzten.
Die Tiere, die aussehen, als wären sie am letzten Tag der Schöpfung aus Teilen, die noch übrig waren, zusammengebaut, sind perfekt an das karge, sandige Lebensumfeld angepasst – von den bratpfannengroßen Plattfüßen über die sanddichten Nasenlöcher bis zum supereffizienten Wasserhaushalt. Ihre Mimik ist irgendwo zwischen lieb, lässig und lethargisch angesiedelt.
Eine wüste Sache
Schon nach zwei Tagen hat einen die Wüste Marokkos vollständig verschluckt, hat einen das Nomadenleben gepackt. In einer Landschaft, die viel Platz lässt für Gespräche, Gedanken und das Gehen. Ein meditatives Momentum ist einer – nur auf den ersten Blick monotonen – Wandertour in der „Wunderkammer Wüste“ nicht abzusprechen. Denn so karg die Umgebung im raschen Drüberschauen wirkt, umso abwechslungsreicher präsentiert sie sich beim ruhigen Dahinmarschieren. Keine Sandbank gleicht der anderen, genügsame Pflanzen trotzen ihrem widrigen Habitat, Spuren von tierischen Lebenskünstlern verzieren den trockenen Boden. Viel größer als ein Sandkorn fühlt man sich zwischen den Dünen selbst nicht.
Es ist ein seltsames Vakuum von Raum und Zeit, das die sture Eigenschaft hat, sich doch stets von Neuem zu füllen. Mit Farben von leuchtendem Violett bis zu strahlendem Hellblau, mit gleißendem Licht und kühlenden Schatten, mit sanften Linien und scharfen Kanten, die der Wind aus dem Sand formt und umgehend wieder zerstört. Oder mit frischem Eisenkrauttee und Datteln, die Brahim in der Früh, bei jeder Pause, zu Mittag und abends serviert. Der Guide ist unweit im Aït Bougoumez, einem Tal auf der Nordseite des Hohen Atlas, aufgewachsen. Heute lebt er in Marrakesch und führt Wandergruppen sachkundig durch die ihm ans Herz gewachsenen Berg- und Wüstenregionen Marokkos.
Er erwähnt die verschiedenen Dialekte der Berber, jenen nordwestafrikanischen Ethnien, die sich in Sprache und Kultur von den arabisierten Mehrheitsgesellschaften in ihren Heimatländern unterscheiden. Er erzählt von alten Schmuggelpfaden durch die Steinwüste nach Algerien. Er erkundet die Gegend nach passenden Schlafplätzen für die Nacht. Und er erklärt die Eigenheiten der regionalen Spezialitäten, die im Küchenzelt für die Gäste aus dem „Abendland“ gezaubert werden.
Kontraste in der Stadt und an der Küste
Auf dem Djemaa el Fna, dem wohl berühmtesten städtischen Platz Afrikas, trifft man sie dann wenige Tage später wieder, all die Gerüche und Geschmäcker, Düfte und Aromen, die die Sinne umarmen. Hier, im Herzen von Marrakesch, hat sich das pulsierende Alltagsleben eine besondere Bühne gebaut. Auf der riesigen Freifläche inszeniert sich jeden Tag ein buntes Wirrwarr aus Garküchen, Straßenhändlern, Schlangenbeschwörern, Geschichtenerzählern, Wunderheilern und Souvenierstandlern. Gleich dahinter breitet sich der Suq mit seinen 7700 kleinen Shops, unzähligen verwinkelten Gassen und den traditionellen Badehäusern aus.
Sie fungieren auch als Informationsbörse für Stadttratsch. „Ein Hammam ist wie Google: Hier findet man auf alles Antworten, selbst auf Fragen, die man gar nicht gestellt hat“, schmunzelt der Stadtführer, bevor er die tradierten Feinheiten des Stadtbilds erklärt. Demnach erkenne man die Häuser arabischer Besitzer an den großen Türen, die Berber bevorzugen kleine – „damit man sich beim Betreten bücken muss“. Und dann wäre da noch die Sache mit den „Anklopfern“, von denen sich immer zwei an den Türen finden: ein größerer, der tiefe Klopfgeräusche erzeugt und anzeigt, dass ein Mann um Einlass bittet, und ein kleinerer, der höher klingt und verrät, dass eine Frau vor der Türe steht (der nur von einer Frau geöffnet werden darf). Mittlerweile haben kleine Überwachungskameras diese Funktion übernommen.
Ein ähnliches Bild zeichnet die Medina von Essaouira – nur dass hier, in der Hafenstadt am Atlantik, die zum Weltkulturerbe der Unseco zählt, die Laissez-faire-Gemütlichkeit einer ehemaligen Hippie-Hochburg mitschwingt.
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Klaus Höfler