Phara nimmt jeden Samstag an einem Kunstkurs teil. Während Touristen mit ihren Audioguides über das Burggelände schlendern, kann man die Genter Kunstschülerin beobachten, wie sie detailgetreu Details der Architektur der mittelalterlichen Wasserfestung zu Papier bringt. Immerhin ist die Grafenburg mehr oder weniger die einzige erhalten gebliebene mittelalterliche Festung mit einem nahezu vollständig intakten Verteidigungssystem in Flandern. „Ich liebe meine Heimatstadt“, erzählt Phara. „Gent ist groß, aber auch nicht zu groß. Gent ist modern, aber auch nicht zu modern. In Gent sind viele Touristen, aber nicht zu viele davon“, bringt es die Schülerin auf den Punkt.
Ob Phara auch das Haus Beaucarne in Oudenaarde kennt? Das historische Anwesen liegt eine halbe Autostunde südlich von Gent und wird gerade aus seinem Dornröschenschlaf erweckt. Hinter der unscheinbaren Hausfassade taucht man in eine faszinierende Welt ein, die aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Eine Ansammlung von Besonderheiten aus mehreren Jahrhunderten sind über viele Räume verteilt. Man könnte hier Wochen verbringen und würde wieder etwas Neues entdecken.
Einsatz für den Erhalt des Erbes
Das Haus Beaucarne stand kurz vor dem endgültigen Verfall und die Hausherrin sollte ausziehen – das war die Motivation für Enkelsohn Julien Fornari, das Ensemble aus dem 18. Jahrhundert zu retten. Denn das Haus seiner Vorfahren verfügt neben den historischen Räumlichkeiten inklusive Inventar auch über einen Garten mit tropischen Bäumen und einem historischen Gewächshaus. „Gemeinsam mit meiner Frau Lena bin ich aus der Genter Wohnung mit Balkon und zehn Topfpflanzen ausgezogen und in dieses verfallene Haus gezogen, das nur mehr vom Efeu zusammengehalten wurde“, erzählt der smarte Belgier. 2018 hat das junge Ehepaar mit den Renovierungsarbeiten begonnen und das Haus für die Öffentlichkeit geöffnet. Bis 2025 sollen die Renovierungsarbeiten andauern, welche geplante 850.000 Euro verschlingen werden. Fornari hofft auf Fördergelder, Crowdfundig und Einnahmen von den Gästen, um diesen enormen Betrag finanzieren zu können.
In der Zwischenzeit kann man sich immer wieder von den Baufortschritten überzeugen und von dem jungen Ehepaar bewirten lassen. Detail am Rande: Das flämische Ehepaar hat Kunstgeschichte studiert und das in dritter Generation. Urgroßmutter Suzanne Lilar war belgische Schriftstellerin und erste Frau, die ein juristisches Examen an der Universität Gent ablegte und als erste Frau in Antwerpen als Rechtsanwältin zugelassen wurde. Warum das Haus Beaucarne, das seit Generationen in Familienhand so verfallen ist, traut man sich nicht zu fragen. Bewundernswert ist jedoch die Motivation des jungen belgischen Paares, die das Erbe erst einmal den Tanten ablösen mussten.
Rubens, der Influencer Antwerpens
Die Verbundenheit von Personen mit ehrwürdigen Gebäuden kann man auch in Bornem erleben, wo Anne durch die Räumlichkeiten von Schloss Marnix de Sainte Aldegonde führt. „Man muss nicht nach Frankreich fahren, um ein schönes Schloss zu sehen“, sagt die Flämin überzeugt. Anne zeigt mit spürbarem Stolz die Sammlungen des Grafen von Bornem, welche eine Leidenschaft für alte Kutschen und Grafiken von Breughel erkennen lassen. „Meine Mutter hat hier mit den Schlossführungen begonnen und ich bin hier aufgewachsen“, schwelgt die Flämin in Erinnerungen. Das ehemalige Wasserschloss befindet sich an einem alten Arm der Schelde und liegt mitten im Naturschutzgebiet.
Der Schelde entlang kann man mit einem Wasserbus nach Antwerpen fahren. Dort befindet sich das einzige Museum, das bisher auf der Unesco-Liste steht: das Museum Plantin-Moretus. Das Patrizierhaus beinhaltet die einzige noch bestehende eingerichtete Verlagsdruckerei aus dem 16. Jahrhundert. Für diese einst größte Druckerei der Welt hatte auch Peter Paul Rubens Titelblätter entworfen. Der flämische Künstler arbeitete eng mit der Druckerei Plantins zusammen und war mit Balthasar I. Moretus befreundet.
„Peter Paul Rubens ist ,Influenzer‘ und wichtigstes Markenzeichen der Stadt“, erzählt die Stadtführerin Claudia Gaspard. Der belgische Maler war schon zu Lebzeiten berühmt und hat in Zeiten der Rekatholisierung von den zahlreichen Aufträgen für die Kirchen gelebt. An diese goldenen Zeiten, in denen viele Händler die flämische Stadt kreuzten, erinnert das Diamantenviertel. Im 16. Jahrhundert war Antwerpen, nach Paris, die zweitgrößte Stadt von Europa; im 15. Jahrhundert war es Gent.
Gent und seine Gilden
Daher hat die junge Kunstschülerin Phara genügend Möglichkeiten, spannende Architekurdetails in ihrer Heimatstadt zu finden. Prachtvolle historische Gebäude mit Treppengiebel kann man im Zentrum des einstigen flämischen Kornhandels, der Gras- und Korenlei, bestaunen. Ab dem 11. Jahrhundert musste nämlich jedes Schiff, das den Binnenhafen von Gent passieren wollte, ein Viertel seiner Getreideladung als Zoll an die Stadt zahlen. Man sollte auf jeden Fall auch abends dieses Viertel besuchen, wenn sich Gent als eine Stadt des Lichtes präsentiert und unzählige Laternen eine märchenhafte Stimmung erzeugen. Vielleicht wird man von dieser Atmosphäre selbst motiviert, zu Stift und Papier zu greifen.
Eines der berühmtesten Denkmäler Gents ist jedoch der Genter Altar, der sich in der St.-Bavo-Kathedrale befindet. Bevor man vor dem restaurierten Altar von Hubert und Jan van Eyck tritt, besteht die Möglichkeit, in der Krypta der Kathedrale mithilfe einer Augmented-Reality-Brille tief in die bewegte Geschichte des Meisterwerks einzutauchen. Das Besondere an diesem Altar sind die Darstellung Jesu Christi als Lamm Gottes und die detailverliebte Darstellung der Malerei auf 24 Tafeln. Dass der Altar wieder in der Chorkapelle der Genter Kathedrale besichtigt werden kann, gleicht einem Wunder. Schließlich sollte dieses Kunstwerk gemeinsam mit anderen weltberühmten Kunstdenkmälern im österreichischen Salzbergwerk von den Nazis gesprengt werden. Ob Phara sich auch an dieses Genter Kunstwerk heranwagt?