„Aber die Kreter, im Kampf gehärtet, hungrig nach Leben, stürzen die Wahrheit hinunter wie ein Glas frisches Wasser.“ Das sagte der große Nikos Kazantzakis einmal in einem Radiointerview einem französischen Sender. Die Verfilmung seines Romans „Alexis Sorbas“ machte den 1883 auf Kreta geborenen Schriftsteller in den 1960ern berühmt. Sein bedeutendstes Werk feiert die Freiheit, die unbändige Lust am Leben, die Liebe und den Mut, gerade im Angesicht von Katastrophen und Niederlagen.
Am Hunger nach Leben hat sich auf Kreta seitdem nicht viel verändert, so scheint es. „Die Erde Kretas ist so rot gefärbt, weil hier so viel Blut für die Freiheit vergossen wurde“, schreibt Kazantzakis. Ob osmanische Herrschaft, die Verbrechen der Nazis, der Bürgerkrieg, die Militärdiktatur, die Finanzkrise, die Brände, Beben und die Pandemie: Es gibt wenige Landstriche auf der Erde, die so mit Menschen gesegnet sind, die sich trotzdem nicht unterkriegen lassen. Die Kreter verlieren ihre Hoffnung nicht, sie verlieren ihr Lachen nicht, sie leben weiter. In guten wie in schlechten Zeiten. Es ist kein Zufall, dass Kazantzakis Alexis Sorbas in Kreta scheitern und letztlich das Leben feiern ließ.
Auf Sorbas’ Spuren
Die größte Insel Griechenlands, deren südlichste Stadt Ierapetra nur 400 Kilometer Luftlinie von Afrika entfernt ist, ist landschaftlich nicht unbedingt gesegnet: dort die schroffen Berge, da das karge Land. Die Olivenplantagen hält nur die Bewässerung am Leben. Da das karge Gelände, dort die dornigen Büsche, dazwischen Ziegen auf Bäumen, die auf Menschen starren. Und überall der Bergsalbei. Grau vom Staub der Schotterpisten, aber reibt man ihn zwischen den Fingern, bekommt man das beste Parfum.
Kreta ist nicht nur die größte der griechischen Inseln und der südlichste Punkt Europas. Kreta liegt zwischen drei Kontinenten: Asien, Afrika, Europa. Kreta, das ist aber vor allem: Magie.
In Ierapetra führt eine Österreicherin eines der besten Lokale der Stadt, direkt am Meer. Natürlich heißt ihr Restaurant „Zorbas“: „Wäre es hier nicht so schön, würde ich nicht seit 30 Jahren hier leben“, sagt sie, als sie den gegrillten Oktopus auf den Tisch stellt. Die größte Stadt an der Südküste nah bei Libyen und Ägypten ist zum viertgrößten Ort Kretas angewachsen. Der Nordwind bläst an der schmalsten Stelle der Insel heftig und mildert die Sommerhitze. Im Herbst hat es 25 Grad und auch das Meer ist warm wie ein Kärntner See im Juli.
Das Tor zu Afrika
Die Altstadt in Ierapetra schmiegt sich an den Fischerhafen mit dem Glockenturm, dem Kastell und kleinen Kirchen. Napoleon startete von hier nach Ägypten. Alle Herrscher Kretas erkannten die strategische Wichtigkeit Ierapetras. Die alten Griechen nannten Ierapetra „Hierapytna“: das Tor zu Afrika. Für Araber wie auch Venezianer war Ierapetra Drehkreuz zwischen den Kontinenten.
Wieder war es Kazantzakis, der beschrieb, was es heißt, ein Kreter zu sein: „,Wie war das Leben für dich, Opa?‘, fragte ich einmal einen alten Kreter. Er war hundert Jahre alt, voller Narben von alten Wunden, blind. Er wärmte sich in der Sonne, kauerte auf der Schwelle seiner Hütte. Er war ,stolz an den Ohren‘, wie wir auf Kreta sagen. Er hörte nicht so gut. Ich wiederholte die Frage: ,Wie war dein langes Leben, deine hundert Jahre, Opa?‘ – ,Wie ein Glas frisches Wasser‘, erwiderte er mir. ,Und hast du noch Durst, Opa?‘ Er hob seinen Arm ruckartig empor. ,Verflucht sei der, der keinen Durst mehr hat‘, rief er. Das sind die Kreter. Wie könnte ich sie nicht zum Vorbild machen?“
In der Strandtaverne „Schedia“ kurz vor Ierapetra ist schon Badeschluss, doch in der Küche steht noch „my mother“, wie der 60-jährige Wirt erzählt, während er erklärt, dass es auf der Karte nur noch „Imam“ gibt, Melanzani und Erdäpfel in Paradeissoße und den Fang des Tages, Dorade oder Brasse. Soll nichts Schlimmeres passieren.
Die Überreste des Essens kippt der Kellner, der zum Saisonende Ouzo für alle ausgibt, in eine Aluschüssel für die vielen streunenden Katzen, die hier allerorten ein rundes Bäuchlein haben und ein glänzendes Fell. Leben und leben lassen, so scheint es in diesen milden Herbsttagen, ist das Motto auf dieser mit Gastfreundschaft gesegneten Insel.
Steinalte Kulturen – und Bäume
Das fällt auch in Myrtos auf. Das kleine Dorf liegt ebenfalls im Süden und es wurde definitiv nicht für Touristen hochgezogen. Hier gehen die Kinder zur Schule, hier hocken alte Frauen in schwarzen Kittelschürzen vor der Haustür und ihre Männer sitzen auf ihren angejahrten weißen Plastiksesseln im Baumschatten und spielen Karten. Entlang der Strandpromenade und in den Seitengassen, die in den Sommermonaten begehrt sind, gibt es hübsche Tavernen. Am Ende der Saison werden auch hier nicht die Rollläden heruntergelassen, die Arbeit geht weiter, die Bauern gehen auf ihre Felder, die Oliven müssen geerntet und das Öl gepresst werden. Die letzten Paradeiser werden eingekocht, manche werden noch in die Johannisbrotbäume zum Nachreifen gehängt.
Durch seine Küstenlage herrscht subtropisches Mikroklima in diesem malerischen Myrtos, geschützt ist der Ort auch durch das Dikti-Gebirge im Hintergrund. Die Winter sind mild, regenreich und ein Segen für die Natur, und dazwischen gibt es immer auch sonnige Tage. Im Schnitt werden in Myrtos 320 Sonnentage pro Jahr gezählt.
Der Osten, der Süden und der Norden Kretas sind nah beieinander. Das liebliche Agios Nikolaos im Osten, das schmucke Ierapetra im Süden und das historische Knossos im Norden sind sogar in einer Tagestour zu erreichen. Allerdings nur, wenn man die Schönheiten des Südostens links liegen lässt, wie die atemberaubenden Schluchten. Einen Abstecher wert ist das unscheinbare Kritsa mit seiner byzantinischen Kirche der Panagia Kera (Maria Himmelfahrt), in der die gut erhaltenen Fresken beeindrucken. Auch ein Besuch im Bergdorf Kavousi lohnt sich, selbst wenn die Fahrt dorthin holprig ist: Dort strahlt ein laut Wissenschaft 3250 Jahre alter Olivenbaum die ganze Würde der Natur aus. Und dann ist da auch noch Knossos, die wichtigste Ausgrabungsstätte Kretas, fünf Kilometer von Heraklion (Iraklion), der Hauptstadt, entfernt. Hier entstand vor rund 4000 Jahren die erste Hochkultur auf europäischem Boden, die minoische Kultur, benannt nach König Minos. Nikos Kazantzakis schrieb in jungen Jahren seinen Roman „Im Palast von Knossos“, in dem er aufzeigt, wie ein Zuviel an Macht zwangsläufig zum Untergang führt. Warum die minoische Kultur tatsächlich unterging, ist aber bis heute ein Rätsel.