Die Wallfahrtskirchen von Heiligenblut oder Mariazell, der Stephansdom in Wien oder die Kathedrale Notre-Dame in Paris: Sie alle stehen frei an ausgewählten schönen Plätzen, wodurch ihre architektonische Wirkung unterstrichen wird. Gelangt man aber durch das Gewirr von Gassen in Jerusalem zur Grabeskirche, dann muss man – für viele Besucher enttäuschend – feststellen, dass nur ein Teil der Südfassade zu sehen ist. Der ganze Rest ist engst umbaut. Die Geschichte der Grabeskirche ist eben eine der menschlichen Begehrlichkeiten. Und manchmal auch der Eifersüchteleien. Jede Konfession wollte dem Heiligen möglichst nahe sein, weswegen Klöster dicht an die Außenmauer der Kirche gebaut wurden.


Auch das Innere teilen sich sechs Religionsgemeinschaften. Die Griechisch-Orthodoxen, die Armenier und die Lateiner, wie die Katholiken im Land genannt werden, haben Besitz- und liturgische Rechte. Die Kopten, die Syrisch-Orthodoxen und die Äthiopier auf dem Dach haben nur Anspruch auf Prozessionen und Messen. Geregelt ist das nach örtlichen und zeitlichen Kriterien im „Status quo“, den das Osmanische Reich 1852 festlegte. So kommt es vor, dass einzelne Orte, wie das Heilige Grab, an bestimmten Zeiten unterschiedlichen Religionsgemeinschaften zustehen. Wehe, ein Priester aus Europa, der um die örtlichen Gepflogenheiten nicht genau Bescheid weiß, predigt zu lange und überzieht seine ihm zugedachte Zeit! Innerchristliche Nachsicht wird in solch einem Fall wenig geübt. Und weil man nicht weiß, wie man den Wechsel von der Sommer- auf die Winterzeit und umgekehrt regeln soll, gilt in der Grabeskirche auch ganzjährig die „Normalzeit“.


Diese menschliche Kleingeistigkeit ist ärgerlich und manchmal versteht man israelische Guides, die ihren Gruppen sagen: „In 30 Minuten treffen wir uns auf dem Vorplatz, inzwischen schaut ihr euch das Chaos da drinnen alleine an.“ Das alles soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Grabeskirche, in deren Innerem die letzten Stationen des Kreuzwegs lokalisiert werden, die wohl bedeutendste Kirche der Christenheit ist. Hier wurde Jesus ans Kreuz geschlagen, hier ist er von den Toten auferstanden. Die Kirche, die in der Orthodoxie sinnfällig als „Anastasis“, als „Auferstehungskirche“, bezeichnet wird, sollte das spirituelle Zentrum der gesamten Christenheit sein. Sie ist es aber nicht, weil viele Anglikaner und Vertreter von Freikirchen bevorzugt das „Gartengrab“ besuchen. Dabei handelt es sich um eine Wiese über einem Felsen außerhalb der Altstadt, nahe dem Damaskustor, das der englische Generalmajor Charles Gordon an seinem allerersten Tag in Jerusalem im Jahr 1867 als Golgatha (Schädelstätte) zu identifizieren glaubte.

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Weil diese Kirchen in ihrer oft militant vorgetragenen Opposition denken, gegen die alten Kirchen recht behalten zu müssen, argumentieren sie: Die Römer hätten Exekutionen immer vor den Mauern der Stadt vollzogen, die Grabeskirche stünde aber mitten in der Altstadt. Das Argument stimmt, ist aber leicht zu entkräften. Die dritte Mauer, die eine Ausweitung der innerstädtischen Baufläche ermöglichte, wurde erst Jahrzehnte nach der Kreuzigung Jesu errichtet. Damit lag Golgatha zur Zeit Jesu außerhalb der Stadt. Und dennoch bleibt die Frage, die vor allem von wenig kirchlich gebundenen Touristen und dann und wann auch von Jerusalempilgern gestellt wird: Ist dies hier tatsächlich der historische Ort der Leidensgeschichte?

Ort der Leidensgeschichte


Der evangelische Archäolo
ge Dieter Vieweger von der evangelischen Heilandskirche, die der alten römischen Stadt zur Zeit Jesu näher liegt als die Grabeskirche, hat bei Grabungen festgestellt, dass das Areal seiner Kirche um die Zeitenwende nicht verbaut war, sondern als landwirtschaftliche Nutzfläche vor den Mauern der Stadt gedient hatte. Umso mehr gilt dies für die Fläche rund um die Grabeskirche. Auch der Name Golgatha trägt zur historischen Klärung bei. Herodes der Große begann im Jahr 21 vor Christus mit dem Ausbau des Tempels. Dazu benötigte er Kalksteine, von denen der schwerste um die 400 Tonnen wog. Von mehreren Steinbrüchen von höher gelegenen Teilen der Stadt ließ er das Material zu dem niedrig gelegenen Tempelplatz mittels Rollentechnik transportieren. So auch von dem Ort, an dem heute die Grabeskirche steht. Wer diese besucht, der besucht auch die unter Golgatha gelegene Adamskapelle, wo er hinter einer Glasscheibe den Originalfelsen sieht, der eine sehr brüchige Struktur aufweist. Dieser Stein taugte nicht mehr als Baumaterial, das am Tempel Verwendung finden sollte. Was in der freien Landschaft vor den Toren der Stadt zurückblieb, war eine Formation, die aussah wie der Oberteil eines menschlichen Schädelknochens. Deswegen nannten die Jerusalemer diesen Ort „Schädelstätte“.


Die Römer, die tatsächlich stets vor den Toren einer Stadt hinrichteten und auch bestatteten, taten dies bevorzugt an stark frequentierten Orten. Das nannten sie Generalprävention, eine vorbeugende Maßnahme zur Verringerung von Straftaten.


Es war der Kaiser Hadrian, der nach zwei sehr blutigen und auch unter den römischen Soldaten opferreichen Aufständen der Juden um 135 nach Christus mit einem enormen Aufwand den Sieg davontrug. Danach war es sein Bestreben, einen dritten Krieg gegen Rom zu verhindern. Dafür ergriff er mehrere Maßnahmen. Um die Erinnerung an Judäa, Samaria und Galiläa zu tilgen, gab er dem gesamten Land einen neuen Namen. Weil er die unterlegenen Juden ärgern wollte, wählte er den Namen Palästina. In dieser Bezeichnung findet sich der alte Name der Philister, der Erzfeinde Israels aus den Zeiten Davids, wieder. Zudem sprach er unter Androhung der Todesstrafe ein Betretungsverbot Jerusalems für Juden aus. Und er stellte in allen von Juden und Judenchristen verehrten heiligen Orten Statuen römischer Gottheiten auf oder überbaute sie mit Heiligtümern. Dazu gehörte auch Golgatha, wo er einen Tempel errichten ließ. Als Kaiserin Helena im Jahr 326 mit dem Neuen Testament nach Jerusalem kam, fragte sie genauso wie heute Pilger , wo der Ort des Leidens Jesu gewesen sei. Man könne ihr diesen nicht zeigen, antworteten die Bewohner der Stadt, denn er sei vom Tempel des Hadrian überbaut. Darauf ließ sie diesen abtragen und entdeckte Golgatha und das „nur einen Steinwurf entfernte Grab Jesu“, wie der Kirchenhistoriker Eusebius (260–340) berichtet. Und diese sind bis heute zu sehen.

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