In biblischen Zeiten war es ein Kaff. Es war das Kaff des „Nahum“, eines „kleinen“ Propheten im Alten Testament, der hier begraben sein soll und dem Ort seinen Namen gab. Dieses Dorf am Nordufer des Sees Genezareth wählt Jesus nach seinem Abgang aus Nazareth zum Zentrum seines öffentlichen Wirkens. Hier heilt er unter anderen die Schwiegermutter des Petrus (Mk 1,29-32) sowie einen Aussätzigen (Lk 5,12–16), einen Gelähmten, den man übers Dach zu ihm hinabließ (Lk 5,17–26), und den Diener des Hauptmannes von Kapernaum (Lk 7,1–10). In der unmittelbaren Umgebung hält Jesus seine Bergpredigt (Mt 5 ff.), er stillt den Sturm am See (Mt 8,23–25), er geht über das Wasser (Mt 14,22–23) und speist die 4000 bzw. 5000 mit fünf Broten und zwei Fischen.

Nach seinem Leiden und seiner Auferstehung kehrt Jesus noch einmal nach Galiläa zurück und erscheint seinen Jüngern am Seeufer, wie das Johannesevangelium (21,1–14) berichtet. Die Jünger haben gefischt, aber nichts gefangen. Zurück am Ufer treffen sie auf Jesus, der ihnen rät, noch einmal hinauszufahren und die Netze „auf der rechten Seite des Bootes“ auszuwerfen. Sie kommen mit 153 großen Fischen zurück. Die Zahl scheint so bedeutsam wie rätselhaft. Der Kirchenvater Hieronymus (347–420) glaubt, dass die Zahl aller Fischarten in allen Gewässern 153 beträgt. Der Kirchenvater Augustinus (354–430) hingegen stellt die Zahl auf eine mathematische Grundlage. Er entdeckt, dass es die Summe von 1 bis 17 ist. Dies wiederum interpretiert er auf die Einheit der Bibel hin: 10 Gebote des Alten Testaments und die Zahl 7, die für die „Fülle“ des Neuen Testaments steht, ergeben erneut 17. Um auf 153 zu kommen, muss man 17 mit dem Faktor 9 multiplizieren, einer Zahl der Vollkommenheit, die sich aus dreimal drei zusammensetzt. Drei wiederum wird in vielen Kulturen als „göttliche“ Zahl betrachtet. Mit dieser „höheren“ Mathematik sollte offenbar bewiesen werden: Die Apostel erhielten die ganze potenzierte Offenbarung Gottes.


153 bleibt auch nach den Erklärungsversuchen der großen Theologen rätselhaft. Bemerkenswert ist, dass sich 153 in 1 x 1 x 1 + 5 x 5 x 5 + 3 x 3 x 3 zerlegen lässt. Ist es Zufall oder nicht? Die Kapitel der ersten vier Bücher des Moses ergeben genauso die Zahl 153 wie die „Verborgenen Worte“, eine der wichtigsten Textsammlungen der Bahai, die 153 Aphorismen enthält. Darüber hinaus gibt es noch etliche mathematische Erklärungsmodelle.


Wer das Ausgrabungsfeld von Kapernaum betritt, sieht freigelegte Häuser aus der Zeit Jesu vor sich, alle aus dunklem Basalt. Sie sind unscheinbar, und das Gewirr von halbhohen Mauern ist nicht leicht zu überblicken. Beinahe intuitiv zieht es die Besucher deshalb zu der Synagoge aus weißem Kalkstein. Auch wenn diese prächtig ist und den Ort optisch dominiert, so ist sie doch biblisch gesehen völlig bedeutungslos. Denn sie stammt aus dem vierten oder fünften Jahrhundert. Aus einer Zeit, als es eine antijüdische Gesetzgebung im Römischen Reich den Juden zwar erlaubte, ihre Bethäuser im Bedarfsfall zu restaurieren, ihnen Neubauten aber untersagte. Dazu kommt, dass das Bethaus nicht nach jüdischen Vorschriften errichtet wurde. Es ist nämlich nicht nach Jerusalem, sondern nach Norden in Richtung des Libanon ausgerichtet. Da stellt sich die Frage: Wer hat diesen Prachtbau, der möglicherweise sogar einstöckig war, errichtet, und warum?


Eine mögliche Erklärung liegt in der Prachtentfaltung des Byzantinischen Reichs. Die Kaiser, die sich als Verwalter des Glaubens und Beschützer der Kirche verstanden, lebten in Konstantinopel in wunderbaren, riesigen Palästen. Da schien es ihnen befremdlich, dass ausgerechnet jener Mann, auf den sie sich in ihrer Macht- und Prachtfülle beriefen, in einer armseligen Synagoge in einem Kaff irgendwo in der Provinz von Palästina gewirkt haben soll. Der Bau der prächtigen Synagoge ist möglicherweise dem schlechten Gewissen des Auftraggebers geschuldet. Das ist nur eine Theorie, aber sie würde erklären, warum das neue, von christlichen Bauleuten errichtete Bethaus rituell nicht den jüdischen Vorschriften entsprach. Eines ist archäologisch aber absolut gesichert: Der Neubau wurde über der alten Synagoge errichtet, in der Jesus betete, lehrte und heilte.

Das Haus des Petrus


Wenn man die Synagoge über die Haupttreppe verlässt und dem Weg in Richtung Seeufer folgt, kommt man zu dem für Christen eigentlichen Zentrum des Ortes. Zum „Haus des Petrus“, das die Anfänge des Christentums erkennen lässt. Zunächst sieht man einen Oktogonalbau, der eindeutig aus byzantinischer Zeit stammt. Denn in dieser Periode war es üblich, achteckige Sakralgebäude zu errichten. Sie entsprachen der Theologie der Schöpfung, wonach Gott das Universum in sieben Tagen erschuf. Der achte Tag steht für den Neuanfang.


Betrachtet man die Anzeigetafel, die die Ausgrabungen erklärt, kann man unschwer das ursprüngliche „Haus des Petrus“ ausmachen. Dieses war auch für die franziskanischen Archäologen leicht zu identifizieren, denn an den Wänden des Hauses fanden sich mehr als hundert Einritzungen. Manchmal war es nur ein schlichtes „P“ für Petrus, dann waren es wieder liturgische Worte wie „Herr, erbarme dich“ in Griechisch, Lateinisch, Aramäisch und Syrisch. Und einige Male waren Fische in das Mauerwerk geritzt. Der Fisch, griechisch „Ichthys“, zählt zu den ältesten Glaubensbekenntnissen der Christenheit und war ein Geheimzeichen der im Römischen Reich verfolgten Christen. Entziffert man das griechische Akronym, so ergibt sich daraus: „Iesous Christos, Theou Yios, Soter.“ – „Jesus Christus, Gottes Sohn, der Retter.“ Um diese frühchristliche Stätte, die jahrzehntelang dem Verfall preisgegeben war, zu konservieren, errichteten die Franziskaner in den 1980er-Jahren eine Kirche über dem Petrushaus. Sie soll – der See, an dem Petrus gefischt hat, ist einen Steinwurf entfernt – an ein Schiff erinnern. Manche Besucher sehen darin allerdings eher eine Markthalle. Ein Pilger bezeichnete die Kirche einmal sogar als überdimensionales UFO. Wie immer man den Bau interpretiert: Dieser Ort hätte eine wahrlich sensiblere Architektur verdient.

Lesen Sie morgen: Das Kidron-Tal – Das Heil kommt aus dem Osten

Wolfgang Sotill in seinem geliebten Israel
Wolfgang Sotill in seinem geliebten Israel © KK