Die Fische vom See Genezareth, eingelegt im Salz des Toten Meers, galten den Römern als Delikatesse. Sie waren ein Zeichen für den Wohlstand eines Haushalts, denn nur reiche Bürger konnten es sich leisten, sich ihr Festessen aus der östlichsten Provinz des Römischen Reichs in die Hauptstadt liefern zu lassen. Die Fischer am See hatten davon allerdings wenig. Jesus zählte sie mit den Kleinbauern und den Taglöhnern, den Hirten und den Bettlern, den Waisen und den Prostituierten zu den Armen.
Ein Fischer am See Genezareth zu sein, war nicht einfach. Zunächst bedurfte es eines seetüchtigen Bootes, mit dem man das im Winter wegen seiner Stürme gefürchtete Wasser befahren konnte. Dann mussten Schlepp-, Wurf- und Fesselnetze gekauft und zumindest fünf Taglöhner angeheuert werden, die der Fischer bezahlen musste. Bevor er seiner Tätigkeit nachgehen durfte, musste er eine Fanglizenz lösen, die von der Wasserpolizei kontrolliert wurde. Dazu kamen je nach Ertrag Verbrauchs- und Gewerbesteuern und auf die gesamte Exportware wurden die Zollgebühren aufgeschlagen. Diese waren enorm hoch. Der Grund dafür lag in der Privatisierung des Zollwesens. Der Staat verpachtete die Grenzstationen an jene Zollpächter, die das höchste Angebot legten. Diese holten sich das investierte Geld höchst profitabel zurück, wie wir aus dem Neuen Testament wissen. So beteuert der Zöllner Zachäus in Jericho (Lk 19,1), dass er jenen „das Vierfache“ zurückgeben werde, von denen er zu viel kassiert habe. Tatsächlich blieben einem Fischer nur 44 Prozent seines Umsatzes zum Leben.
Wie bescheiden das Leben gewesen sein muss, belegt ein archäologischer Fund am Westufer des Sees Genezareth nördlich von Tiberias aus dem Jahr 1986. Zwei Brüder gingen am Ufer spazieren, als einer über ein Stück Holz stolperte, das er aus dem Schlamm zu ziehen versuchte. Aus dem nahen Kibbuz Ginnosar, dessen Mitglied er war, holte er einen Spaten und legte Teile eines Bootes von 8,2 Meter Länge frei. Später sollte sich herausstellen, dass dieses aus der Zeit Jesu stammte. Ursprünglich war es aus Eiche und Libanon-Zeder gefertigt worden. In die Jahre gekommen, musste es aber mehrfach repariert werden. Dabei kamen zehn weitere Hölzer, meist Recyclingmaterial vom Johannisbrotbaum, vom Christusdorn und Feigenbaum, von Pistazie, Judasbaum, Lorbeer und Weide zum Einsatz. Das Flickwerk ist ein Beleg dafür, dass der Bootsbesitzer sehr ärmlich lebte.
Tiefe Kluft zwischen Arm und Reich
Historiker gehen heute davon aus, dass in Galiläa zur Zeit Jesu über 90 Prozent der Menschen an oder gar unter der Armutsgrenze lebten. Diese Armut stand in starkem Kontrast zum Reichtum der fünfprozentigen Elite, an deren Spitze Herodes Antipas, ein Sohn von Herodes dem Großen, stand. Der Sold, den ihm Rom bezahlte, betrug jährlich 200 Talente. Das entspricht 118 Kilo Silber. Und dieses Geld investierte er gut, indem er die zerstörte Stadt Sepphoris wiedererrichten und Tiberias neu bauen ließ. Das brachte den Menschen der Region zunächst reiche Arbeit. Aber als die Großbaustellen abgeschlossen waren – bei Tiberias war dies im Jahr 19 nach Christus der Fall – war es mit dem wirtschaftlichen Aufschwung vorbei und die Arbeitslosigkeit stieg. In diese Städte zogen zunehmend Steuerpächter, Richter, Inspektoren und Marktaufseher, sodass die Verwaltung durch die Nähe zu ihren Klienten immer effektiver wurde und es zu einer Mehrbelastung der Menschen kam. Zugleich aber gab es weniger Arbeit, die Löhne fielen – nur die Belastungen blieben gleich hoch. Fazit: Die soziale Schere klaffte weit auseinander und es kam zu sozialen Unruhen.
Viele Menschen hofften auf einen „Retter“, der ihnen helfen und ihnen Trost zusprechen würde, wie Jesus dies getan hat, wenn er in den Seligpreisungen sagt: „Selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden.“ Und später in Jerusalem wird er seine Jünger im „Vaterunser“ beten lehren: „Unser tägliches Brot gib uns heute!“ Für das religiöse Establishment am Tempel von Jerusalem war es völlig unverständlich, dass ein Wanderprediger, der sich hauptsächlich mit den Armen dieser Welt abgab und noch dazu keine formelle Ausbildung bei den großen Rabbinern seiner Zeit erfahren hatte, der „Retter Israels“ sein sollte.
Galiläa hatte keinen guten Ruf bei frommen Juden
Aber nicht allein die Armut, sondern auch die Herkunft machte es den vornehmen Jerusalemer Kreisen unmöglich, in Jesus mehr als einen Aufwiegler zu sehen. Denn Jesus stammte aus Galiläa im Norden des Landes, das als die „Provinz der Heiden“ bezeichnet wurde.
Dieser Name leitete sich von der Eroberung durch die Assyrer 733 vor Christus ab, die die Israeliten deportiert und heidnische Ethnien aus anderen Landstrichen angesiedelt hatten. Zwar hatte der Hasmonäerkönig Johannes Hyrkanos I. um 110 vor Christus die Heiden der Region zum Judentum zwangsbekehrt. Aber das war aus der Sicht der gehobenen Gesellschaft in Jerusalem geradezu lächerlich. Sie konnten ihren jeweiligen Stammbaum tausend Jahre auf König David zurückführen, bei einem Galiläer hingegen war es nicht sicher, ob sein Großvater nicht noch ein Heide gewesen war. Galiläa, das war tiefste Provinz, Jerusalem aber war die Hauptstadt – größer konnte der Gegensatz nicht sein.
Im Norden sprach man ein schlampiges Aramäisch, in Jerusalem parlierte man in einem klassischen Hebräisch, viele waren zudem des Lateinischen und Griechischen kundig. In Jerusalem interpretierte man nicht nur die Tora, sondern erörterte auch die Schriften der römischen Philosophen, Dichter und Schriftsteller. Die Menschen aus Galiläa waren in einfache Wollkleidung gehüllt, der vornehme Judäer trug Leinen aus Ägypten. Im Norden hatten die Frauen, die früh Mütter wurden und sich um Kinder, Vieh und Arbeit auf den Feldern kümmern mussten, eine sonnengegerbte Haut und schwielige Hände. Die Dame in Jerusalem trug eine Frisur, die sie am Schabbat weder hochstecken noch lösen durfte, weil dies so aufwendig war, dass es unter das Arbeitsverbot des heiligen Tages fiel.
Selbst Natanael, ein späterer Jünger, zweifelt an Jesus und fragt. „Kann ausNazareth etwas Gutes k ommen?“ Damit brachte er für seine Zeitgenossen auf den Punkt, warum dieser Mann aus Galiläa wohl kaum der „Retter Israels“ sein konnte.
Lesen Sie morgen: Ein Kuss als Vorzeichen des Todes
Wolfgang Sotill