Eines gleich vorweg: Mediziner in Österreich leisten eine großartige Arbeit, das hat sich während der Pandemie nur bestätigt. Aber Fehler sind menschlich und in diesem Bereich leider schnell fatal. Und schwarze Schafe gibt es in jeder Branche. Aber was bewegt Patienten wirklich, ihren Arzt zu verklagen? Was sind die klassischen Fälle, Frau Dr. Prutsch?
KARIN PRUTSCH: Da gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder sind Behandlungsfehler passiert, die Behandlung wurde also nicht dem Stand der Wissenschaft entsprechend durchgeführt - oder die Aufklärung war mangelhaft. Ich höre oft: „Wenn mir vorher jemand gesagt hätte, dass das eintreten könnte, auch nur mit geringer Wahrscheinlichkeit, hätte ich dieser Behandlung nie zugestimmt.“ Klassische OP-Fehler sind aus meiner Sicht eher selten, viel häufiger handelt es sich um Schnittstellen-Fehler. Ein Beispiel: Der Chirurg im Krankenhaus hat seinen Job erledigt und übergibt den Patienten seinen Kollegen. Der Patient klagt schließlich über Schmerzen, im Krankenhaus wird durch verschiedene Dienstwechsel oft erst verspätet darauf reagiert, die Schmerzen des Patienten werden nicht richtig gewürdigt, man geht von postoperativen Schmerzen aus. Dabei nehmen die Beschwerden dann zu, oft verschlechtert sich der gesamte gesundheitliche Zustand. Der Chirurg hat bei der OP keinen Fehler gemacht, er hat seinen Patienten aber nicht darüber aufgeklärt, was bei dem Eingriff alles passieren kann und welche Komplikationen sich daraus ergeben können.
Wieviel wertvolle Zeit vergeht da im Schnitt?
KARIN PRUTSCH: In den schlimmsten Fällen sind Monate bis zu einem Jahr an Zeit vergangen, bis die Schmerzen adäquat abgeklärt und der richtigen Krankheit zugeordnet wurden. Problematisch ist dabei, dass die Zuordnung der Beschwerden zu einem Krankheitsbild zu lange nicht erfolgt, die Probleme des Patienten werden zum Teil auch als psychosomatisch eingeordnet. Aber die Patienten leiden wirklich. Eine Abklärung aller Beschwerden und das Ernstnehmen der Patienten ist wichtig.
Es steht allerdings jedem frei, seinen Arzt zu wechseln.
KARIN PRUTSCH: Die Menschen haben großes Vertrauen in ihre Ärzte, lassen sich oft ein halbes Jahr lang beruhigen und mit Schmerzmitteln heimschicken. Dann wechseln sie eh. Sie verlieren dadurch aber wichtige Zeit.
Was genau bringt es, sich auf einen Rechtsstreit einzulassen, wenn man gesundheitlich ohnehin schon schwer angeschlagen ist? Geht es um das Geld oder hat das Ganze mehr Symbolcharakter?
KARIN PRUTSCH: Das Geld ist eher selten der Grund. Ich hatte schon einige Patienten, denen klar war, dass sie an den Folgen der Behandlung sterben würden: Diesen Menschen ging es letztendlich darum, den Verantwortlichen gegenüberzusitzen, eine Entschuldigung von ihnen zu erhalten und eine Erklärung, dass sie aus den Fehlern, sofern welche begangen worden sind, gelernt haben. Diesen Patienten ist es wichtig, zu verhindern, dass anderen ein ähnliches Schicksal widerfährt. Das hilft ihnen, ihr Schicksal anzunehmen.
Hat hier nicht auch die Haftpflichtversicherung des Arztes ein Wörtchen mitzureden?
KARIN PRUTSCH: Die Haftpflichtversicherung kann eine Leistung verweigern, wenn der Arzt gegenüber dem Patienten einen Behandlungsfehler eingesteht, ohne dies vorher mit der Versicherung besprochen zu haben, weil dies eine Obliegenheitsverletzung darstellt. Daher muss jeder Arzt einen Schadensfall seiner Haftpflichtversicherung melden, die dann die Gesprächsführung mit den Patienten übernimmt.
Mangelt es an einer gesunden Fehlerkultur?
KARIN PRUTSCH: Ich persönlich gehe davon aus, dass 60 bis 70 Prozent der gerichtsanhängigen Fälle von Patienten zu vermeiden wären bei einem anderen Fehlermanagement. Ich versuche zuerst auch immer eine außergerichtliche Einigung. Die Haftpflichtversicherung oder der Rechtsträger von einem Krankenhaus spekulieren aber oft damit, dass Patienten entweder nicht die finanziellen Mittel haben, um zu klagen oder keine Rechtsschutzversicherung oder dass sie nicht die Kraft haben, ein langwieriges Verfahren durchzustehen.
Von welchen Entschädigungssummen reden wir hier eigentlich? Nähern wir uns den vielzitierten amerikanischen Verhältnissen?
KARIN PRUTSCH: Nein, ganz im Gegenteil. Ein bisschen davon würde uns sogar guttun. Was in Amerika zu viel bezahlt wird, ist bei uns zu wenig. Nehmen wir ein Beispiel: Jemand verliert sein Bein unter dem Knie durch einen Behandlungsfehler. Dafür gibt es in der Rechtsprechung etwa 35.000 Euro Schmerzengeld. Dazu gibt es freilich auch noch Pflegegeld - das macht viel aus, aber das ist für Dinge, die man als Gesunder nie gebraucht hätte, das ist keine Bereicherung. Noch ein paar Beispiele gefällig? Wird über dem Knie amputiert, werden ungefähr 45.000 Euro bezahlt. Querschnittgelähmt mit Schmerzen bekommt man, wenn man vorher gesund war, pauschal um die 250.000 Euro. Und sollte Ihre Mutter durch den Behandlungsfehler eines Arztes sterben und Sie wohnen nicht im gleichen Haushalt, dann haben Sie lediglich einen Anspruch auf die Begräbniskosten. Sollte Ihnen ein psychiatrischer Gutachter noch Trauer, die über ein normales Maß hinausgeht, bestätigen, kommt eventuell noch Schmerzengeld hinzu. Zum Vergleich: In Italien erhalten Hinterbliebene in diesen Fällen etwa 200.000 Euro. Teuer wird es für Versicherungen hierzulande nur, wenn es um Pflegegeld geht.
Bei einem Gerichtsverfahren kommen schnell einmal Kosten in der Höhe von 20.000 Euro und mehr zusammen, auf denen man sitzen bleibt, wenn man verliert. Vor Gericht zu ziehen, ist ein Privileg für Reiche?
KARIN PRUTSCH: Fast alle, die zu mir kommen, haben eine Rechtsschutzversicherung. Wer komplett mittellos ist, hat auf Basis der Verfahrenshilfe Anspruch auf eine kostenlose Rechtsvertretung. Ohne Rechtsschutzversicherung oder Verfahrenshilfe vor Gericht zu gehen, ist nicht empfehlenswert. Hier besteht ein hohes Prozesskostenrisiko, das man auf jeden Fall mit den Klienten besprechen muss.
Hat sich in den vergangenen Jahren etwas geändert, wenn Sie an Ihre Klienten denken? Gibt es einen Trend?
KARIN PRUTSCH: Ja. Patienten trauen sich zusehends mehr, wagen es durchaus, einen Arzt zu verklagen. Anfangs hieß es immer: „Da hat man eh keine Chance.“ Heute ist den meisten klar, dass sie durchaus eine Chance haben, wenn etwas Schlimmes passiert ist. Früher ging es eher um das Geld, heute dominiert die Einstellung: „Das will ich mir nicht gefallen lassen, so will ich mich nicht behandeln lassen. Ich will nicht, dass dieser Arzt so weitermacht.“ Persönliche Kränkung und das Gefühl, eine Ungerechtigkeit zu erleben, sind die Hauptmotivation - und der Glaube an die Gerechtigkeit. Deshalb haben auch viele den Wunsch, mit ihrem Fall an die Öffentlichkeit zu gehen. Wie schon eingangs gesagt: Mit einer guten Mediation zwischen Ärzten und Patienten ließen sich viele Gerichtsverfahren vermeiden.