Gut 20 Jahre sind verstrichen, seit ich die ersten Gehversuche auf dieser Welt getan habe. Für mich eine halbe Ewigkeit, für dich sind sie wohl wie im Flug vergangen. Abgeflogen bin ich nun tatsächlich – von zu Hause. Zwar bin ich nicht aus der Welt, aber doch hab ich mir mein eigenes studentisches Nest gebaut. Eine Wohngemeinschaft ist es geworden, eine neue kleine Familie, näher am Zentrum des städtischen Lebens, ganz fernab vom Schutz deiner behütenden Hände.
Die Hände, die immer mit Leichtigkeit den Spagat zwischen schützender Fürsorge und kontrolliertem Fall beherrscht haben. Manchmal war er auch ein wenig unkontrolliert, mein Fall, du hast mir aber schon früh den Weg für eigenständige Flugversuche geebnet, ohne zu vergessen, mich notfalls rechtzeitig aufzufangen.
Du hast eine Richtung vorgegeben, hast mir Begeisterung für fremde Kulturen und Sprachen vermitteln wollen, in frühesten Jugendjahren hätte ich bereits unzählige Bücher verschlingen sollen. Hängen geblieben ist einiges, aber dennoch hat es viel mehr Zeit und Startschwierigkeiten gebraucht, als du erwartet hast. Leicht hast du es mir nicht gemacht, man konnte es dir nicht immer gut genug machen. Den notwendigen Fokus auf mich selbst und meine eigenen Bedürfnisse musste ich erst behaupten. Es war der impulsive Rebell in mir, der selbst dein entspanntes Gemüt in Sekundenschnelle zu flammender Weißglut treiben konnte.
Letztlich war dir aber nichts wichtiger, als mir die Fähigkeit zu geben, mir meinen eigenen, selbstbestimmten Weg durchs Leben zu bahnen. Unabhängigkeit ist für dich eine elementare Eigenschaft. Du hast meinen Drang erkannt und mir früh einen Freiraum zugestanden, in dem ich nahezu unbekümmert agieren konnte, in dem ich auch Fehler machen durfte. Zum Weihnachtsfest vor vier Jahren hast du mir ein Zitat aus einem Brief von meiner Großmutter mit auf den Weg gegeben. Ich war damals 17 Jahre alt, auf der Schwelle zum Erwachsenwerden, meine ersten Reisepläne quer durch Europa waren dir schon bekannt. Die Zeile lautete: „Höre nicht auf die anderen, höre auch nicht auf deine alten Eltern, die zwar das Beste für dich wollen, aber auch irren können. Höre nur auf dich selbst, auf dein eigenes Herz.“
Worte, die ich in der Rückblende als großes Kompliment empfinde. Ich konnte meine jugendlichen Kreise ziehen, abseits von rigorosen Ausgehbeschränkungen und starren Regeln, aus denen ich mich hätte befreien müssen. Du hast mir Vertrauen geschenkt. Ich habe es nicht ausgenützt. Dennoch war es mir damals nicht bewusst, erst heute weiß ich es einzuordnen und zu schätzen. Genauso hast du meinen Auszug von zu Hause befürwortet, sogar regelrecht vorangetrieben, obwohl dir nichts hätte schwererfallen können.
Ein neuer Lebensabschnitt hat für mich begonnen, ich bin ins turbulente Karussell des Studentenlebens gestiegen. Nun bin ich derjenige, der einen Spagat schaffen muss. Schließlich sind Studium, Arbeit und Sozialleben auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Hier macht sich deine, wie ich glaube, größte Sorge wie eine dunkle Gewitterwolke am bis vor Kurzem noch strahlend blauen Himmel breit. Du fragst dich, welche Rolle du in meinem künftigen Leben spielen wirst? Sei versichert: Deine Rolle mag sich verändern, aber es wird immer eine Hauptrolle sein.
Du hast deine Hausaufgaben gemacht, hast mich mit den Grundwerten des Lebens versorgt und mir meinen Rucksack mit dem nötigen Rüstzeug für die Zukunft gepackt. Obendrein hast du mir noch einen kleinen Schubser verpasst, damit ich den großen Schritt auch tatsächlich wage und nicht im letzten Moment doch noch einen Rückzieher mache. Welche Rolle spielst nun du in meinem dicht getakteten Ringelspiel? Sei unbesorgt! Vollkommen egal, wie groß der Trubel wird, er kann dich nicht aus meinem Leben verdrängen. Stelle es dir wie eine Achterbahn vor. Es geht einmal drunter, einmal drüber, manchmal ganz entspannt geradeaus. Deine Rolle ist eine schillernde, sie verändert sich stetig, aber in den Schienen meiner persönlichen Hochschaubahn bleibt sie unentwegt fest verankert.
Rituale wie unser sonntägliches Mittagessen bleiben ein fixer Bestandteil. Ich gerate nicht außer Reichweite. Behalte das stets im Gedächtnis, selbst wenn es mich in baldiger Zukunft für ein Semester oder mehr in deine Wahlheimat Frankreich zieht und ich schier ewig weit weg erscheinen sollte.
Wünsch mir guten Flug!
Dein Thomas
Thomas Gann