In Ihrem Food Report 2024 sprechen Sie von der Moralisierung des Essens. Demnach werden Pflanzen zur neuen Leitsubstanz unserer Esskultur. Essen wir alle bald nur noch Pflanzen?
Hanni Rützler: Ich kann mir Österreich ohne Fleisch nicht vorstellen. Aber ich kann es mir mit weniger Fleisch vorstellen – und vor allem mit besserem. Wir sehen heute schon, dass das Fleisch seine Pole-Position verloren hat. Es sind vor allem die jüngeren Generationen, die den Trend der pflanzlich orientierten Ernährung in die Zukunft tragen. Einfach weil sie weniger Fleisch essen als ihre Eltern- und Großelterngeneration. Das und die steigende Bedeutung von Nachhaltigkeit und Gesundheit führen zu meiner Annahme, dass die pflanzlich orientierte Ernährung die nächsten Jahrzehnte stark prägen wird.
Im Laufe der Geschichte waren die Generationen unter kulinarischen Gesichtspunkten selten so unterschiedlich…
Es gab Zeiten, da waren es die Frisuren, die die Generationen trennten, dann wieder war es die Musik oder die Mode. Und seit der Jahrtausendwende ist es oft das Essen. Die Frage, ob man Tiere töten darf, öffnete die Türen zum Veganismus. Und die Bedeutung der Ernährungsweise für den Klimawandel macht pflanzenbasierte Ernährung vor allem für jüngere Generationen attraktiver. Hier wächst eine Generation heran, die Tiere nicht nur als Nutztiere sieht, Pflanzen nicht nur als Beilage, Gesundheit nicht mehr als Problemzone.
In Ihrem diesjährigen Trend-Report widmen Sie sich nicht nur den Trends, sondern auch den Gegentrends, die offenbar genauso wichtig sind. Was kann man sich darunter vorstellen?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Bleiben wir bei der pflanzlichen Ernährung. Sie hat sich etabliert. Aber dadurch ist auch ein Gegentrend entstanden, auf den ich persönlich lange gewartet habe – und der jetzt wirklich angekommen ist: nämlich den der Carneficionados.
Also einer neuen Affinität zu Fleisch.
Genau, wobei mein Augenmerk hier vor allem auf den Produzenten liegt. Immer mehr sagen: Das können wir besser. Plötzlich sind Rinder- oder Schweinerassen ein Thema, die Haltung, die Fütterung, die Reifung des Fleisches. Aber auch die Wertschätzung für das ganze Tier ist gestiegen. Fleischproduzenten setzen nicht mehr nur auf Kurzbratstücke, sondern auch auf das ‚fünfte Viertel‘, wie die Italiener zu Innereien sagen. Gerade in Österreich haben wir das Zeug dazu, in Sachen Fleisch besser zu werden, weil wir viel alpines Grünland haben, wertvolle Traditionen und kreative Köpfe.
Welcher Trend wird das kommende Jahr am stärksten prägen?
Der Themenkomplex rundum die Lebensmittelverschwendung kommt endlich stärker in Bewegung. Es gibt immer mehr und agilere Netzwerke, die sich dieses Themas verstärkt annehmen. Auf der Produzentenseite gibt es mehr innovative Köpfe, die Nebenprodukte als Ressourcen wahrnehmen und weiterverarbeiten oder abgeben, damit sie an der richtigen Stelle sinnvoll weiterverarbeitet werden. Das geht von Altbrot über Pressrückstände bis zu Traubenkernen. Daraus entstehen dann Kracker, Bier, Gemüsemehle oder wertvolle Öle.
Gibt es unter den Trends, die das nächste Jahr bestimmen werden, auch solche, die Sie persönlich mehr faszinieren als alle anderen?
Der Trend, den ich besonders faszinierend finde, sind ‚Local Exotics‘, also der Anbau und die Zucht von Pflanzen, die aufgrund der technischen Entwicklungen, aber auch des Klimawandels - Stichwort höhere Temperaturen - langsam, aber sicher auch bei uns geerntet werden können. Wie etwa Ingwer, Wasabi, Artischocken, Oliven, Reis oder Wassermelonen. Diese neue Vielfalt verändert und inspiriert die regionalen Küchen und nimmt gleichzeitig die Veränderung unserer Landwirtschaft aufgrund des Klimawandels vorweg.
Und gibt es eigentlich auch Trends, die Sie persönlich ärgern?
Als Wissenschaftlerin verstehe ich Food-Trends als Antworten auf aktuelle Probleme, Wünsche und Sehnsüchte, die innerhalb einer Gesellschaft entstehen. Da spielt die persönliche Bewertung keine Rolle. Allerding gibt es auf reiner Produktebene natürlich das eine oder andere, das ich mit Kopfschütteln zur Kenntnis nehme.
Sie machen es spannend.
Ich spreche von bestimmten Süßigkeiten mit viel Farbe und viel Chemie, um die plötzlich ein Riesenhype entsteht.
Wie zum Beispiel Donuts.
Zum Beispiel, ja. Wobei ich mich ja freue, dass die Leute neugierig sind. Und ich das super finde, dass sie sich wegen eines Lebensmittels ewig in eine Schlange stellen! Und was mich besonders fasziniert, ist dass die Leute immer jünger werden, die sich mit Essen und Kochen auseinandersetzen. Das macht die Zukunft unserer Esskultur bunter und spannender.
Lucas Palm