Armin THURNHER: Das ist einmal eine gute Frage: Was hat das Jahr mit uns gemacht? Mich hat es zum Beispiel in Ruhe gelassen. Ich kann mich über die Pandemie in keiner Weise beklagen. Vielleicht musste ich an mir entdecken, dass ich einen Zug ins Solipsistische habe, aber überrascht hat mich das nicht. Das Jahr hat mir Isolation auferlegt und ich habe sie, wie man so sagt, gern angenommen. So konnte ich mich der großen Ablenkung Journalismus ein wenig entziehen. Natürlich habe ich mir dafür doppelt so viel aufgepelzt: aber selbst aufgepelzt! Selbstaufpelzung ist für mich die einzige Möglichkeit der Freiheit, habe ich herausgefunden.


Michael FLEISCHHACKER: So ungefähr habe ich mir das gedacht. Solipsistischer Bildungsbürger sitzt im Waldviertler Schloss und kommt endlich dazu, Gedichte zu schreiben. Eh schön, ich gönne es jedem, dem es vergönnt ist. Mir ist allerdings während dieses Jahres aufgefallen, dass in erster Linie Menschen über die Pandemie und die Angemessenheit der Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung sprechen, die in einer ähnlichen Lage sind wie Sie. 100 Prozent Einkommen, viel Platz, intakte Beziehungsnetzwerke, keine großen Pläne mehr. Was spricht da gegen einen Dauer-Lockdown? Wenig. Auch wenn man mich mit der Minimierung von Sozialkontakten wirklich nicht schrecken kann: Mein Jahr war nicht ganz so beschaulich. Das Unternehmen, das ich mitgegründet und für das ich mit viel Herzblut gearbeitet habe, existiert nicht mehr, und auch sonst bin ich der Welt nicht sonderlich grün. Ich denke, dass es der Mehrheit der Menschen eher so geht wie mir, und darum möchte ich Ihnen vor allem einmal recht herzlich zu Ihrem geruhsamen Jahr und zu den Früchten Ihrer Selbstaufpelzung gratulieren, lieber Thurnher. Genießen Sie Ihre Freiheit auch 2021 in vollen Zügen, es wird ja noch eine Weile so weitergehen.


THURNHER: Na ja, ich wollte niemanden verbittern. Das mit Ihrem Unternehmen tut mir leid, als Unternehmer fühle ich mit Ihnen. Habe jedoch nicht nur Gedichte geschrieben (übrigens Arbeit), sondern jeden Tag eine Kolumne, abgesehen von allem anderen. Bisher 290 Stück. Pläne habe ich noch ausreichend. Hatte als ursprünglicher Katholik natürlich den starken Drang, etwas zurückgeben zu müssen für meine unverhoffte Freiheit. Also ein Jahr Arbeit, unausgesetzt, denn wenn ich nicht selbst publiziere, dann gastiert bei mir der klinische Epidemiologe Robert Zangerle von der Med Uni Innsbruck. Auch dessen Veröffentlichungen wollen betreut und publiziert sein, sodass mir nicht fad wird. Privilegiert, ja. Geruhsam, nein. Aber beim Dauer-Lockdown, da haben Sie, fürchte ich, etwas missverstanden. Was immer dieses konfuse Auf-Zu unserer regierenden Dilettanti war, es war weder dauernd noch zugesperrt. Dass die Dilettanti keine Rücksicht auf wirklich Betroffene nahmen, stimmt leider in fast jeder Hinsicht.

FLEISCHHACKER: Ich denke, dass wir an dieser Stelle nicht erneut alle unsere unterschiedlichen Einschätzungen zur Gefährlichkeit des Virus und zur Angemessenheit der Maßnahmen ausbreiten müssen (ich weiß nicht, warum mir gerade einfällt, dass „Maßnahmenvollzug“ in unserem Justizsystem die zeitlich unbegrenzte Wegsperrung von „geistig abnormen Rechtsbrechern“ bezeichnet). Der Herr Chefredakteur wollte wohl vor allem wissen, was das Jahr „mit uns gemacht“ hat, wie man heutzutage so gern sagt. Also: Mich hat das Jahr wütend und gleichmütig zugleich gemacht, mich kann nichts mehr enttäuschen, weil ich nichts mehr erwarte.

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THURNHER: Das klingt nicht gut. Ich kann ja auch nicht dagegenhalten, dass mich eine Hochstimmung erfasst hätte. Die Erfreulichkeit stark gedrosselter Kontakte hält sich stark in Grenzen. In solchen Situationen kommt einem älteren Menschen wie mir, der sich auf die Gesellschaft einiger Freunde gefreut und mit ihnen fraglos gerechnet hatte, umso schärfer zu Bewusstsein, dass sie zu früh gestorben sind und Ersatz nicht mehr möglich ist. Der Besuch an Gräbern ist jedenfalls keiner. Unter diesen Bedingungen fallen mir die Eitelkeit und die Leerheit dessen, was man politische Inszenierung nennt, umso stärker auf. Ich fürchte, ich bin im Umgang damit noch intoleranter geworden. Was ist Ihnen Neues widerfahren außer den erwähnten Abscheulichkeiten?

FLEISCHHACKER: Dass ich mir nichts mehr erwarte, bezieht sich ausschließlich auf Politik und Öffentlichkeit, mein wirkliches Leben kommt zwar naturgemäß auch nicht ohne Enttäuschungen aus, aber es überwiegen sehr deutlich die Erwartungen. Viel Neues ist mir widerfahren in diesem Jahr, ich habe die Menschen besser kennengelernt. Ich denke, dass so ungewöhnliche Rahmenbedingungen, die einen über lange Strecken auf sich und sein engstes Umfeld zurückwerfen, fast notwendigerweise dazu führen, dass viele Menschen ihr Leben noch einmal neu anschauen. Und viele sehen wohl auch, dass sie nicht einfach so weitermachen wollen und können. Aber schon diese Wahrheit hat den beschönigenden Beigeschmack, den ich an der Corona-Debatte dieses Jahres so hasse.

THURNHER: Also, ich glaube das mit der Neuanschauung auch nicht. Der beschönigende Beigeschmack ist nicht auszuhalten, da sind wir uns einig, Krise als Chance und so. Ich bin aber auch skeptisch, was das Weitermachen betrifft, obwohl natürlich große Krisen die Möglichkeit dazu implizieren, Dinge neu zu bedenken. Die Wirklichkeit sieht dann so aus: Sind wir froh, es hinter uns zu haben, nach uns die Sintflut, jeder greift ab, was er kann, und macht sich mit der Beute davon. Die Zeche zahlen die Kleinen, die sich nicht wehren können. Und jeder wird weltanschaulich genau das, was er war. Ich fände naturgemäß mehr soziale Gerechtigkeit angebracht, nachdem die Reichen schon die Taschen voll haben. Aber das werden Sie, um meine These zu stützen, genau entgegengesetzt sehen.


FLEISCHHACKER: Am großen Spiel wird sich nichts ändern, da haben Sie wohl recht, auch wenn ich den Rückgriff auf das Klischee der „Reichen“, die jetzt auf Kosten der Armen noch reicher werden, ein bisschen billig finde. Problematischer finde ich den Gegensatz zwischen denen, die am Rockzipfel des Staates hängen und bestens versorgt wurden, und denen, die auf eigenes Risiko gearbeitet und gelebt haben und einfach fallen gelassen oder in staatliche Abhängigkeit getrieben wurden. Ich glaube aber, dass gar nicht so wenige Einzelne die Einladung annehmen werden, ihr Leben neu zu kalibrieren. Nur das ist ja auch interessant, denn die politischen und ideologischen Spiele sind durchgespielt, da kommt ohnehin nichts mehr.


THURNHER: Kommen Sie, Klischee! Sie kennen die Zahlen so gut wie ich, in diesem Dreivierteljahr sind allein die reichsten zehn Milliardäre um 400 Milliarden Dollar reicher geworden, in keiner Relation zur eigenen Tüchtigkeit. Im Übrigen sage ich nichts voraus, schreibe aber nichts ab. Das ist ja der beliebteste Fehler. Die größte Herausforderung wäre, einen „neu kalibrierten“ Sozialstaat zu denken, der den Einzelnen, die das wollen, ihre unternehmerischen Möglichkeiten lässt. Möglich, aber unwahrscheinlich. Resignativ? Hat mich dieses Jahr trotz allem nicht gemacht.


FLEISCHHACKER: Ich weiß, dass es neben Ihnen noch viele andere brillante Intellektuelle gibt, die auch auf den Finanzmärkten die Arbeitswerttheorie ihres Idols angewendet sehen wollen, aber ich fürchte, das bringt uns nicht weiter und macht auch die Armen nicht weniger arm. Immerhin sind wir uns in der Vorhersageskepsis einig. Die größte Herausforderung bleibt, glaube ich, ein Leben zu leben, das einen davor bewahrt, am Ende, wenn man schon fast sehr tot ist, feststellen zu müssen, dass man nicht das gemacht hat, was man machen wollte.