Früher waren es Hausmütterchen und Ökofreaks, die zum Strickzeug griffen, handgestrickte Wäsche war kratzig und immer ein bisschen peinlich. Diese Zeiten sind vorbei. Stricken liegt im Trend - auch in der Altersklasse U30, in der Stadt und unter den Berufstätigen. Den wenigsten geht es dabei darum, schnell Meter zu machen. Im Gegenteil: In der Ruhe liegt die Kraft.
Helga Wohlgemuth, die seit 30 Jahren gemeinsam mit ihrem Mann in Maria Saal „das“ Wollgeschäft Kärntens betreibt, sagt es so: „Die meisten stricken für die Entspannung, um den Kopf freizubekommen und gewissermaßen den Computer runterzufahren. - Stricken, das ist Yoga für die Seele.“ Wie gefragt dieses Yoga ist, beweisen Wohlgemuths Strickkurse, die zweimal pro Woche angeboten werden und seit fünf Jahren regelmäßig ausgebucht sind - „mit Wartelisten“, wie sie sagt. Sigrid Pichler, die ihren „Glücksfaden“-Wollladen erst im Oktober 2018 in Graz eröffnet hat, zeichnet ein ähnliches Bild: „Unsere Kreativ-Abende waren von Anfang an überrannt. Beim gemeinsamen Stricken treffen sich hier 20- bis 80-Jährige - „auch einen Mann hatten wir dabei“, berichtet sie.
Die therapeutische Wirkung von Hobbys ist bekannt. Speziell die Begeisterung für Handarbeit lenkt von eigenen Schmerzen und Problemen ab, weckt Kreativität und Lebensgeister. Stricken ist dabei aber eine Nummer für sich, wie die englische Physiotherapeutin Betsan Corkhill herausfand. 2005 gründete sie das globale Netzwerk stitchlinks.com als Knotenpunkt für die Erforschung des gesundheitlichen Nutzens der Strickleidenschaft.
Das S-Wort hat es in sich
Wissenschaft und Stricken passen nämlich durchaus zusammen: „Um meinen Fuß bei Akademikern und Klinikern in die Tür zu bekommen, begann ich Stricken als bilaterale, rhythmische, psychosoziale Intervention zu bezeichnen, das weckte das Interesse“, erklärt Corkhill. Das S-Wort hat es nämlich in sich: Einerseits sind da diese ganz speziellen Handbewegungen, andererseits fallen die Haltung der Hände und die Art und Weise, wie Stricken Blickkontakt ermöglicht, auf. Hinzu kommt die Mobilität: Stricken kann man überall.
Anders gesagt: Zum Arbeitsablauf gehören komplexe, zweihändige und gut koordinierte Bewegungsmuster. Das bringt unser Gehirn auf Trab. Gleichzeitig fördern die rhythmischen, automatischen Bewegungen die Entspannung, Vertrautheit und Geborgenheit. Und die spezielle Haltung der Hände bildet einen Puffer zur Welt, erweitert unsere Intimsphäre, gibt uns Schutz - was vielen den sozialen Kontakt überhaupt erst möglich macht. Stricken verbindet, lässt Freundschaften entstehen. Zumal es zu den wenigen Aktivitäten zählt, die während einer Unterhaltung Blickkontakt erlauben - in einer Dosis, die man allerdings immer selbst bestimmt, ohne dabei jemals unhöflich sein zu können.
Stress und Verspannungen lassen beim Stricken in jedem Fall nach: „Gestresste Menschen neigen instinktiv zu wiederholten, rhythmischen Bewegungsmustern und trösten sich damit selbst“, sagt Betsan. „Der Eintritt in eine Art Meditationszustand scheint beim Stricken als natürliche Begleiterscheinung aufzutreten.“ Mit Farbe und Textur hochwertiger Strickgarne lässt sich die Stimmung dabei zusätzlich beeinflussen.
Folgerichtig ist Stricken längst schon Luxus, wie Wohlgemuth sagt. „Die Leute schauen dabei nicht aufs Geld.“ Hier geht es schließlich um ein Wellnessprogramm.