Für den Doyen der österreichischen Krebsmedizin, Christoph Zielinski, gibt es keine Zukunft ohne die Vergangenheit. Über Jahrzehnte forschte er am Wiener AKH, ist international geschätzt. „Zwei Dinge haben den Wandel in der Krebsmedizin herbeigeführt. Das eine war das Human Genom Project, das andere der Cancer Genom ­Atlas, der aus den Genen oder Molekülen im Genom jene identifiziert hat, die Krebs­erkrankungen vorantreiben.“

Daraus seien jene Medikamente entstanden, die gegen die molekularen Veränderungen gerichtet seien und als Präzisionsmedizin gelten. Vom Jahr 2011 bis zum Jahr 2016 seien rund fünf Dutzend Medikamente gegen Krebs zugelassen worden. „Aber 2018 allein sind so viele zugelassen worden wie in den Jahren 2011 bis 2016.“

Derzeit stehen zwei Therapien im Fokus. Zum einen versteht man immer besser, wie das körpereigene Immun­system gegen Krebszellen mobilisiert werden kann, was auch mit dem Nobelpreis bedacht wurde. Mit diesem Wissen hat man Präparate entwickelt, die gegen Krebs eingesetzt werden. Sie firmieren unter dem Titel Immuntherapie und werden gegen bestimmte Krebsarten verwendet.

Früher: Zellgifte im Einsatz

Zuletzt sorgte außerdem die sogenannte Car-T-Zelltherapie für Aufsehen, dabei werden, vereinfacht erklärt, körpereigene Zellen (gen-)technisch verändert, um den Krebs zu bekämpfen, und wieder dem Körper zugeführt. Nachteil: mögliche Nebenwirkungen; und auch bei dieser Therapie ist es schwierig, Erfolge vorherzusagen. Konsequenz: Die Finanzierbarkeit wird zunehmend zur Herausforderung.


Zielinski betont: „Krebs­erkrankungen zerbröseln in eigene Erkrankungsformen.“ Man setze eine Therapie ein, der Tumor verändere seine molekulare Zusammensetzung, es entwickle sich eine Resistenz. „Je mehr wir an Therapiemöglichkeiten gegen diese Resistenzen einsetzen können, desto chronischer wird die Erkrankung“, so Zielinski. Und: „Natürlich kann man sagen, das sei eine zynische Betrachtungsweise, denn im Endeffekt kann das zu einem schwierigen Verlauf führen. Aber das kennen wir auch von anderen Erkrankungen.“


Herbert Stöger, Leiter der Onkologie am LKH Universitätsklinikum Graz erinnert sich ungern an früher. „Man arbeitete mit unspezifischen, also auch ungehemmt auf die gesunden Zellen wirkenden Zellgiften. Damals war das unheimlich frustrierend, man wusste einfach zu wenig über die Krebs­erkrankung selbst. Mit der heute verfügbaren Technologie können wir jetzt die unterschiedlichen Krebsarten klarer differenzieren. Lungenkrebs etwa ist ein Paradebeispiel dafür, wie unterschiedlich Tumoren sein können und daher völlig unterschiedlich behandelt werden müssen.“

Wie die Zelle zur Krebszelle wird

Man müsse wissen, wie die Krebsmedizin heute arbeite, um die riesigen Herausforderungen zu verstehen. Stöger: „Im Zellzyklus ist alles vorgegeben: von den Aufgaben, was eine Zelle produzieren muss, bis zum vorprogrammierten natürlichen Zelltod.“ Dabei seien viele Schaltkreise mit unterschiedlichsten Stationen eingebaut.

Wenn hier Störungen entstehen, wird die Zelle zur Krebs­zelle. „Man kann das mit dem Verkehr vergleichen: Man fährt vom Hauptbahnhof mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Krankenhaus. Wenn aber eine Störung am Weg vorliegt, bricht der Verkehr (Anm. Zellzyklus) zusammen. Schiebe ich aber eine Ersatzlinie ein, kann ich damit wieder Ordnung in das System bringen und zum Ziel kommen.“ Und genauso arbeite die moderne Krebsmedizin, man könne „Ersatzlinien“ einschieben, mit speziellen Molekülen an Bord, um den Tumor anzugreifen. Stöger: „Ich bekämpfe so die Ursache.“

Das bedinge aber eines: Man müsse extrem viel testen, denn Tumoren wandeln sich ständig, es seien auch unterschiedlichste Therapien zu kombinieren, was Nebenwirkungen verstärke.

Krebstherapie wird immer komplexer

Die moderne Krebsbehandlung werde deshalb trotz ihrer aktuellen Erfolge – mit längeren Überlebenszeiten und besserer Lebensqualität trotz Erkrankung – immer komplexer und könne laut Stöger nicht mehr hauptsächlich über den klassischen Studienweg getragen werden. Denn nicht jede „Ersatzlinie“ bringe die große Verbesserung, und: „Man hat ja auch keinen Patienten, der nur an einer Erkrankung leidet. Wenn ich jetzt einen Raucher habe, der an Lungenkrebs erkrankt ist, dann hat er nicht nur eine spezielle Tumorart, sondern in der Regel auch andere geschädigte Organe etc. Das ist das, was uns im Alltag limitiert.“

Ein Kernproblem: Selbst Tumoren gleicher Herkunft können unterschiedlich sein, Patienten haben weitere Erkrankungen, viele reagieren unterschiedlich auf die neuen Therapien. „Der derzeitige Stand ist trotz der Erfolge so ernüchternd, weil es schwierig ist, all diese Daten-Ebenen zu vernetzen“, so Stöger. Deshalb sei jetzt der „große Moment für den Einsatz von künstlicher Intelligenz“. Denn: „Wir werden vom Wissen überschwemmt.“

Wie weit die Wissenschaft sei, habe eine Präsentation beim letzten Krebskongress beispielhaft gezeigt: Ein Mathematiker habe einem Computer beigebracht, CT-Bilder zu lesen. Anhand von Rechenmodellen sei es gelungen, dass der Computer schon vorab erkenne, wie der Patient auf Therapien anspricht. Stöger: „Ein Computer kann anhand der vielen Daten Dinge wahrnehmen, die Menschen nicht erkennen.“ Es gehe darum, alle Daten zusammenzuführen. Stöger spricht zwar von „unheimlichen Fortschritten“. „Aber das Pro­blem Krebs haben wir noch nicht gelöst. Auch wenn wir neue Thera­pien kennen.“

"Dunkle Materie" im Genom

Martin Pichler ist der jüngste Mediziner im Bunde, er arbeitet und forscht nicht nur in Österreich am LKH Universitätsklinikum Graz, sondern hat auch eine assoziierte Professur am MD Anderson Cancer Center in Texas, einem der renommiertesten Krebszentren der USA. An seiner Arbeit erkennt man die Komplexität: Er untersuchte die „dunkle Materie“ des menschlichen Genoms. Hier gibt es Abschnitte im Erbgut der Tumorzellen, die noch sehr wenig bekannt sind. „Diese haben wir in den USA mit meiner Gruppe näher charakterisiert und neue Mechanismen bei Dickdarmkrebs gefunden, die wir im Tierversuch therapeutisch günstig beeinflussen können. Das bedeutet: Wenn wir diese Stellen im Genom besser verstehen lernen und dann modifizieren können, dann können wir das Krebswachstum beeinflussen oder sogar stoppen“, so Pichler.

„Dunkle Materie“ werde dieser Bereich deshalb genannt, weil das Erbgut ein sehr langer Faden im Zellkern sei, von denen nur bestimmte Abschnitte charakterisiert und andere in ihrer Rolle für die Tumorzelle unbekannt sind – ähnlich einer ­Galaxie, mit Sternen und Planeten, die man nur zum Teil kennt.

So sieht die Zukunft aus

Die Zukunft der Behandlung sieht Pichler einerseits im Ausbau der Präzisionsmedizin (Pille, die maßgeschneidert auf die genetische Veränderung in der Krebszelle abzielt) und Stimulierung des Immunsystems. Andererseits in zellbasierten Strategien gegen Krebs.

Körpereigene Immunzellen werden im Labor „scharfgemacht“, damit könne man schon heute bestimmte Blutkrebserkrankungen an schwerst vorbelasteten Patienten behandeln. „Diese als CAR-T-Zelltherapie bezeichnete Behandlung soll in Zukunft durch Forschung besser verträglich und noch wirksamer bei möglichst vielen Patientinnen und Patienten einsetzbar werden – aber das ist noch Zukunftsmusik.“

Eine andere Zukunftshoffnung heiße CRISPR/Cas, auch als Genschere oder ­Genom-Editing bezeichnet. „Tumorzellen haben gestörte Gene. Die Hoffnung und Forschung geht dahin, diese Gene wieder mittels CRISPR entsprechend ,zu reparieren‘, indem man kranke Gene austauscht oder durch gesunde Abschnitte ersetzt.“ Die Forschung läuft in diesen Bereichen parallel in den USA und in Graz ab. Aber: Auch diese Entwicklungen brauchen noch Zeit, ehe der Kampf gegen den Krebs vielleicht endgültig gewonnen werden kann.