Sie gelten als Miterfinderin und "Mutter" der Coronaimpfstoffe. Wie kam es dazu?

KATALIN KARIKÓ: Wie so oft im Leben spielt auch bei mir der Zufall eine große Rolle. In den 1980er-Jahren war ich am Biologischen Forschungszentrum in Szeged beschäftigt. Ich würde heute noch in Ungarn arbeiten, hätte ich Karrierechancen gehabt. 1985 erhielt ich von der Temple University im amerikanischen Bundesstaat Philadelphia das Angebot, am Biochemischen Institut meine Forschungstätigkeit über synthetische RNA fortzusetzen. So zogen mein Mann, meine kleine Tochter und ich nach Amerika.

Das war noch vor dem Fall des Eisernen Vorhangs, wo selbst eine legale Ausreise in den Westen nicht unproblematisch war.
Das ist richtig. Als Angestellte genehmigte mir die Bank beispielsweise nicht die Ausfuhr von Fremdwährung. Mein Mann und meine zweijährige Tochter durften Devisen im Wert von je 50 Dollar mitnehmen. Vom Verkauf unseres Autos haben wir 900 Dollar in den Teddybären meiner Tochter eingenäht und in die USA geschmuggelt. Das war unser gesamtes Startkapital.

Wie hat sich der Neuanfang in den USA für Sie gestaltet?
Finanziell war es hart, weil wir im ersten Monat uns von den 900 Pfund über Wasser halten mussten. Wir waren wirklich auf Überlebenskurs. Wenn man nicht untergehen will, muss man schwimmen lernen, und so lernte ich so rasch wie möglich "schwimmen". Ich verbrachte drei Jahre lang Tag und Nacht an der Universität, ich schlief buchstäblich im Labor. Drei Jahre später wurde mir von der Johns Hopkins University eine Professur angeboten. Als mein Vorgesetzter davon erfuhr, war er so beleidigt, dass er mich und meine Familie ausweisen lassen wollte.

Aus welchem Grund?
Die Publikationen unserer Forschungsergebnisse liefen erstmals gut und er fürchtete, nach meinem Abgang würde das Institut keine Zuwendung bekommen. Er kontaktierte Johns Hopkins und die zogen ihr Angebot zurück. Mir blieb nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen und an der Temple University zu bleiben. Rückblickend betrachtet verdanke ich diesem Umstand, dass ich meine Forschungstätigkeit auf dem Gebiet der Molekularbiologie, im Besonderen der Boten-RNA, intensivierte. Einige Jahre später wurde mir ein Lehrstuhl an der University of Pennsylvania angeboten und ich wechselte. Das ging anfangs auch gut. Nachdem es mir aber in sechs Jahren nicht gelang, Fördergelder für mein mRNA-Projekt zu lukrieren, wurde ich zurückgestuft und mein Gehalt wurde gekürzt.

Wie gehen Sie mit Rückschlägen um?
Natürlich ist es schwierig, wenn niemand an den Erfolg glaubt und man belächelt wird. Aber als Wissenschaftlerin kann ich es mir nicht leisten, mich davon entmutigen zu lassen. Ich war davon überzeugt, synthetisches mRNA ist die Zukunft in der Krankheitsbekämpfung, daher habe ich weitergeforscht.

Können Sie die Entwicklung bis zum mRNA-Impfstoff schildern?
Zuerst möchte ich vorausschicken, dass der mRNA-Impfstoff nicht als Coronavakzin geplant war. Mein ursprüngliches Vorhaben war, einen mRNA-Impfstoff für spezielle Therapiezwecke zu erzeugen, wie etwa für Aids, Schlaganfall und Krebs. 1997 kam mein Kollege Drew Weissman, der Mitarbeiter von Dr. Fauci war, an die Pennsylvania University, wo ich bereits Boten-RNA synthetisch erzeugte. Die Boten-RNA regt die Zellen an, genetische DNA-Information in Protein zu verwandeln. Das Problem waren die Entzündungsreaktionen, wie Drew Weissman erkannte. Parallel zu unseren Ergebnissen veröffentlichte eine französische Gruppe 1993 eine Studie von RNA bei Influenza. Sie verwendeten ebenfalls konventionelle RNA, die zu entzündlichen Reaktionen führte. Drew Weissman und meine Schlussfolgerung war, die Lösung liegt in der Herstellung einer nicht-entzündlichen mRNA. Die Zellen dürfen die injizierte Boten-RNA nicht für einen Fremdkörper halten, sondern müssen ihn für einen körpereigenen Stoff halten. Wir modifizierten einen der vier Bausteine der mRNA und damit gelang uns der durchschlagende Erfolg.

Wie ging es dann weiter?
Diese bahnbrechende Entdeckung veröffentlichten wir 2005. Dann gründete ich mit Drew Weissman ein Unternehmen, in dem wir mRNA für spezifische Therapiezwecke entwickelten. Trotzdem bekam ich meine Professur an der Universität Pennsylvania nicht zurück, daher verließ ich 2013 das Institut und ich nahm die Position bei Biontech an. Dort setzten mein Team und ich die Tests fort, konfigurierten und optimierten die synthetische Boten-RNA und identifizierten 2014 das, was heute der mRNA-Impfstoff ist. 2018 hatten wir einen Influenza-Impfstoff entwickelt und erhielten nach dem erfolgreichen Abschluss an Tierstudien die Autorisierung für eine Studie bei Menschen. Als die Coronavirus-Pandemie ausbrach, waren somit die Voraussetzungen geschaffen, damit rasch ein Impfstoff produziert werden konnte.

Wie ist es erklärbar, dass innerhalb weniger Monate das Vakzin produziert werden konnte?
Als Sars-CoV-2 ausbrach, genügte ein Blick auf die Landkarte und Biontech-CEO Uğur Şahin wusste, das Virus würde sich über Züge und Flugzeuge von Wuhan aus in alle Welt verbreiten. Daher veranlasste er umgehend, einen Impfstoff gegen das Virus zu produzieren. Ohne die Jahrzehnte an Vorarbeit hätten wir es nicht geschafft, innerhalb so kurzer Zeit Sequenzen zu designen und die Produktion hochzufahren.

Als Miterfinderin der mRNA-Technologie müssten Sie jetzt Milliardärin sein, schließlich ist der Impfstoff weltweit zum Einsatz gekommen.
Geld war nie die Motivation und wie mein CEO Uğur Şahin vertrete auch ich die Position, dass es unsere moralische Verpflichtung ist, einen Impfstoff herzustellen. Ich forsche seit Jahrzehnten auf diesem Gebiet und das ist kein Zweig, mit dem man reich wird. Ich bin schon deshalb keine Milliardärin, weil ich persönlich kein Patent angemeldet habe. Die IP-Abteilung der University of Pennsylvania vertrat die Meinung, niemand würde das Produkt verwenden, wenn es patentiert ist, und wir waren nicht die Einzigen in der mRNA-Forschung. 2010 verkaufte die University of Pennsylvania die exklusive Lizenz des Patents. Das große Stück des Kuchens ging an die Universität, unser Anteil an Lizenzgebühren war vernachlässigbar.

Wenn es nicht das Geld ist, was treibt Sie stattdessen an?
Solange ich als Wissenschaftlerin tätig bin, halte ich an meiner Mission fest: Modifizierte mRNA soll dem medizinischen Fortschritt und uns Menschen dienen. Hätte ich jetzt eine Milliarde Dollar, wüsste ich gar nicht, was ich mit so viel Geld machen würde. Eine Milliarde Dollar, das würde mir nur Kopfschmerzen bereiten.