Bevor Milena krank wurde, war sie eine Jugendliche, die enorm zielstrebig war: Sie wusste schon seit der Volksschule, dass sie Naturwissenschaftlerin werden will, sie hat dafür Praktika gemacht. Nach einem USA-Aufenthalt hatte sie den Traum, in Berkeley in Kalifornien zu studieren. Sie liebte es, Cello zu spielen – doch das war leider eines der ersten Dinge, die sie aufgeben musste, als sie erkrankt ist.
Begonnen hat es, als Milena gerade 16 Jahre alt geworden war, im Jahr 2018: Sie hatte einen banalen Infekt, eine Erkältung, die viele hatten – aber Mila, so nennen wir sie, hat sich nie mehr davon erholt. Dieses Krankheitsgefühl, Halsschmerzen, die Kraftlosigkeit – das ist bei ihr einfach weiter bestehen geblieben. Wir gingen zur Hausärztin, zum Jugendarzt, aber keiner konnte sich einen Reim darauf machen. Der nächste Schritt war dann ganz typisch für die Erkrankung ME/CFS: Die Ärztinnen und Ärzte haben vorgeschlagen, die Beschwerden psychosomatisch abklären zu lassen. Die psychische Diagnostik war völlig unauffällig, ebenso die Blutwerte. Und doch hieß es danach: Na ja, es muss ja doch etwas Psychisches sein, eine depressive Verstimmung. Dabei war Milena alles andere als antriebslos – sie hat einen enormen inneren Antrieb, aber es fehlte ihr völlig die körperliche Kraft.
Diagnose als Erleichterung – zunächst
Mila ist immer schwächer geworden, aber sie wollte um jeden Preis die Schule abschließen, Matura machen, um studieren zu können. Sie hat immer mehr Zeit im Bett verbracht, aber ging noch für die Schularbeiten zur Schule. Und dann im Sommer 2019 las ich einen Artikel über eine Patientin mit ME/CFS und es war als würde ich über Mila lesen. Dadurch erfuhren wir erstmals von diesem Krankheitsbild, bekamen einen Termin beim Neurologen Michael Stingl und seither hat Mila die Diagnose ME/CFS. Zunächst war das eine Erleichterung, damit wussten wir, was los ist. Und auch wenn es keine Therapie gibt, wussten wir, man kann das Pacing betreiben – also seine Kraft so einteilen, dass man sich nicht überlastet. Damals war Mila auch noch nicht so schwer betroffen und wir glaubten, sie hat gute Chancen, dass die Krankheit ausheilt.
Und dann kam der Sommer 2020 und Mila wollte unbedingt ihre vorwissenschaftliche Arbeit schreiben. Heute sage ich, damit hat sie ihrer Gesundheit geschadet. Sie war sehr diszipliniert, hat immer nur fünf Minuten gearbeitet und den restlichen Tag ausgeruht. Es kam im Herbst ein Infekt dazu, das Pfeiffersche Drüsenfieber, und dann ging es ganz schnell.
An ihrem Geburtstag, dem 6. November 2020, ist sie noch einmal aufgestanden, ganz kurz. Das war das letzte Mal, dass sie aufgestanden ist, bis heute. Sie wurde massiv geräusch- und lichtempfindlich, auch essen wurde extrem anstrengend. Das passierte innerhalb von Tagen und so schnell, dass wir uns überhaupt nicht darauf vorbereiten konnten. Mein Mann und ich waren im absoluten Notfallmodus, es ging nur um das Allerelementarste: Mila zu ernähren und dass sie die Toilette verwenden kann. Das war eine ganz dunkle Zeit. Dein Kind ist schwerstkrank, du weißt nicht was passiert und das Schlimmste war, dass wir komplett allein waren. Das Krankenhaus ist keine Option, in keinem Krankenhaus in Österreich gibt es die medizinische Kompetenz, ME/CFS zu behandeln. Durch die Geräusch- und Lichtempfindlichkeit wäre schon der Transport ins Krankenhaus ein irrsinniges Problem. Wir haben es geschafft, ein Team zusammenzustellen, einen Hausarzt, der ins Haus kommt, Blut abnimmt, Rezepte schreibt.
Im stockdunklen Zimmer
In Milas Zimmer ist es so stockdunkel, dass ich es mit Worten gar nicht beschreiben kann. Die Fenster sind mit einer Folie abgeklebt, sie trägt eine Schlafmaske, die sie nur nachts abnimmt. In diesem Zimmer liegt sie seit zweieinhalb Jahren. Sie kann nicht mehr sprechen, sie kommuniziert über ihre Finger und hat eine eigene Zeichensprache entwickelt. L, O, N, E: Diese Buchstaben mit den Fingern gezeigt, sagen mir, dass die absolute Einsamkeit das Schlimmste für sie ist. Sie kann ihr Handy nicht verwenden, sie kann keine Sprachnachrichten bekommen. Einmal im Monat kann eine Freundin zu Besuch kommen, aber nur für ein, zwei Minuten und ohne zu sprechen, alles andere ist zu anstrengend.
Einen typischen Tag bei uns zu beschreiben ist leicht, denn jeder Tag läuft gleich ab. Je routinierter die Abläufe, desto weniger Anstrengung bedeutet es für sie. Wie bei vielen Betroffenen ist auch bei Mila der Tagesrhythmus stark nach hinten verschoben. Sie schläft möglichst lang, wenn sie schon um neun oder zehn aufwacht, ist es eine Enttäuschung. Um 13.30 Uhr bekommt sie ihre erste Mahlzeit, püriert in einer Schnabeltasse. 40 Minuten später heben wir sie auf den Toilettenstuhl. Um 15 Uhr und um 17 Uhr eine Mahlzeit, um 18 Uhr Toilette. Um 19.45 Uhr eine Mahlzeit, um 22 Uhr die größte Mahlzeit des Tages. Dann sind wir bis 24 Uhr mit der Pflege beschäftigt. Ich putze ihr die Zähne, wasche sie.
Zähneputzen ist eine große Anstrengung, aber es darf ja nichts mit den Zähnen passieren, wir können ja nicht zum Zahnarzt. Alle Abläufe, alle Handgriffe sind genau festgelegt. Ich darf nichts vergessen, denn ich könnte nicht einfach sagen: Dreh dich bitte noch einmal um, das schafft sie nicht. Die Ernährung, die Verdauung, das Atmen, das am Leben bleiben – Milas Energie reicht nur noch dafür. Jeder Hauch von Anstrengung muss reduziert werden. Und gleichzeitig ist sie geistig total wach.
Ich würde die Frage gerne beantworten, aber ich kann nicht genau sagen, wie sich das alles für Mila anfühlt. Unsere Kommunikation ist so stark eingeschränkt. Ich bilde mir auch nicht ein, dass ich mir das vorstellen kann – was es bedeutet, wenn man so schwach ist, dass man nicht einmal die Hände anheben kann, um sich ein Haar aus dem Gesicht zu streichen. Sie verträgt zum Glück starke Schmerzmittel, sie hat keine Nervenschmerzen mehr. Ich kann ihre Hand berühren, ich kann sie am Kopf berühren – aber schon meine reine Anwesenheit im Raum ist eine Anstrengung. Wenn sie Angst hat und ich sie als Mutter eigentlich in den Arm nehmen müsste – das geht nicht.
Die Hoffnung, dass es besser wird
Mila hat eine Zwillingsschwester, Ella. Sie lebt das Leben, das Mila auch leben wollte. Sie hat ein freiwilliges soziales Jahr gemacht, sie studiert nun Medizin in Wien. Es ist natürlich schmerzhaft zu sehen, dass der Graben zwischen Mila und ihrer Schwester und ihren Freundinnen immer größer wird. Aber Mila ist sehr stolz auf ihre Schwester und damit gibt sie ihr auch die Erlaubnis, ihr Leben zu leben.
Woran Mila sich festhält: die Hoffnung, dass es besser wird. Im letzten Jahr sagte eine deutsche Medizinerin, dass es bis Ende des Jahres ein Medikament geben würde. Mila zählte jeden Tag herunter, bis sie am Ende des Jahres, an Tag null war. Dann musste sie sich neu orientieren und das ist ihr gelungen. Sie will auch dieses Jahr noch aushalten. Für mich gilt: Ich tue, was jeden Tag getan werden muss. Wenn ein Mensch so schwer krank ist und Liebe sich nicht in Worten ausdrücken lässt, dann ist meine Verlässlichkeit, dass mein Mann und ich immer da sind, das ist mein Weg Liebe zu zeigen. Aber ich hoffe auch – auf eine Besserung, auf Forschung, auf eine bessere medizinische Versorgung.
Keine medizinische Versorgung
Die medizinische Versorgung von ME/CFS in Österreich sieht bisher so aus: Hausärztinnen und -ärzte kennen sich mit ME/CFS nicht aus. Es gibt in Österreich mehrere 10.000 Betroffene, aber keine einzige Anlaufstelle für ME/CFS. Zum Vergleich: Für Multiple Sklerose, eine ähnlich häufige Krankheit, gibt es 139 Anlaufstellen. Wenn Betroffene doch ein Krankenhaus aufsuchen, gibt es keine Spezialisten, die ME/CFS fachgerecht behandeln könnten. Dann stehen die behandelnden Ärztinnen und Ärzte ratlos ums Bett oder es werden aus Unkenntnis Psychodiagnosen vergeben. Es gibt nur eine Handvoll Privatärzte, die alle vollkommen überlaufen sind. Die Betroffenen werden hinter den Türen ihrer dunklen Zimmer vergessen, die Politik schiebt die Verantwortung ab an die medizinischen Fachgesellschaften. Natürlich kann die Politik handeln: Bisher sind es allein Betroffene – oft schwerkranke Patientinnen und Patienten, die Aufklärung betreiben, Forschung fördern und derzeit etwa eine Biobank aufbauen.
Ich sage mir heute: Mit Mila kann alles passieren. Die Krankheit kann ausheilen, ich halte es auch für möglich, dass es ihr irgendwann wieder so gut geht, dass man es ein Leben nennen kann. Ich halte es auch für möglich, dass sie irgendwann sagt: Ich kann so nicht mehr, ich möchte sterben. Ich denke nicht allzu weit in die Zukunft, sondern ich gehe von Tag zu Tag.