Mit wie vielen Frauen er in seinem Leben bisher geschlafen hat, weiß Aaron (Name von der Redaktion geändert) nicht. "Meistens waren es One-Night-Stands, manchmal Sexbeziehungen", sagt der 40-Jährige, der lieber anonym bleiben möchte. Einen großen Teil seines bisherigen Lebens war er sexsüchtig und auch heute hat er noch mit den "Nachwehen" der Sucht zu kämpfen.

Der Weg in die Sexsucht 

Aber der Reihe nach. Das Thema Sucht ist für Aaron bereits als Kind präsent. Wenn man so will, wurde es ihm in die Wiege gelegt. "Meine Eltern kommen beide aus Alkoholikerfamilien, in denen Gewalt, Lieblosigkeit und in vielerlei Hinsicht Hilflosigkeit geherrscht hat." Die Sucht zieht sich weiter durch die Familiengeschichte.

Bei Aaron beginnt es allerdings nicht mit Alkohol, sondern mit Selbstbefriedigung. "Wir waren mit dem Fußballverein auf einem Turnier und haben in einem Hotel übernachtet. Ein Fußballkollege hat mir dann gezeigt, wie man masturbiert." Elf Jahre alt ist er damals. In der Folge masturbiert er immer öfter – um sich zu entspannen, sich zu belohnen oder zu trösten. Oft bleibt es nicht bei einem Mal, er befriedigt sich mehrmals hintereinander – so lange, bis es schmerzhaft wird.

Dieses Video könnte Sie auch interessieren

Die Frage nach dem Warum beantwortet er so: "Man gibt sich selbst seinen Frieden", ganz so, wie das Wort es suggeriere. Aber eigentlich sei das ein Kurzschluss: "Es ist eigentlich immer nur ein kurzer Frieden, danach stürzt man in ein noch tieferes Loch ab."

Sex und Selbstwert

Bei der Selbstbefriedigung soll es nicht bleiben, wenige Jahre später kommt der Alkohol hinzu. Aaron trinkt, um sich selbstsicher zu fühlen, weniger gehemmt. "Vorher habe ich Frauen immer nur angestarrt. Als die Wirkung vom Alkohol eingesetzt hat, war ich plötzlich wie verwandelt. Plötzlich hatte ich das Gefühl: Jeder mag mich. Und ich mag mich auch." Ein Zustand, den er sich immer gewünscht hat. Mit 16 beginnt er außerdem, Marihuana zu konsumieren.  

In diesem Zustand sei er dann auf "die Jagd" gegangen. So habe er das damals genannt, wenn er losgezogen ist, um Frauen kennenzulernen. "Ich habe da einen regelrechten Sport draus gemacht, so viele wie möglich zu verführen." Aaron beginnt, sein Selbstwertgefühl darauf aufzubauen. Immer wieder sagt er sich, dass er sich endlich wertvoll fühlen wird, wenn möglichst viele attraktive Frauen ihn anziehend finden.

Die Folge sind zahllose One-Night-Stands. Bis auch das nicht mehr reicht: Mit Anfang 20 besucht er zum ersten Mal ein Bordell. "Immer wenn der Suchtdruck so stark und keine andere Möglichkeit da war, bin ich dann dorthin gegangen." Danach habe er sich immer wieder geschworen, nie wieder hinzugehen: "Ich habe mich abscheulich gefühlt. Aber nach zwei, drei Wochen ging das Ganze von vorne los." 

WHO: Sexsucht offiziell als psychische Störung anerkannt

6C72: Das ist der Code für die Diagnose zwanghaftes Sexualverhalten. Bei Sexsucht handelt es sich um eine Krankheit, 2018 hat die WHO zwanghaftes Sexualverhalten als psychische Störung anerkannt und in ihrem Katalog für Krankheiten (ICD-11) aufgenommen. 

"Eigentlich verbindet man Sex ja mit etwas Schönem. Bei Sexsüchtigen ist es allerdings ein Leiden, ein Gefühl von Unfreiheit, von Getriebensein", erklärt Psychotherapeut Dominik Batthyány. Sexsucht gehört zu einem der Arbeitsschwerpunkte des Leiters der Therapie- und Beratungsstelle für Verhaltenssüchte an der Psychotherapeutischen Ambulanz der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien. "Typisch für Sucht ist der Kontrollverlust. Das heißt, Menschen verlieren die Kontrolle über ihr Verhalten – und zwar so, dass es negative Auswirkungen auf ihr Leben hat."

Natürlich sei bei Sexualität ein gewisser Kontrollverlust gewünscht, bei einer Sexsucht habe das allerdings eine andere Dimension. "Da treten wiederholt und ganz gezielt sexuelle Fantasien oder Impulse auf, wofür ein hoher Zeitaufwand aufgewandt wird und was sich negativ auf wichtige Inhalte und Ziele des Lebens auswirkt, die nicht sexuell sind." Ebenfalls charakteristisch für die Sucht ist die Dosissteigerung: "Es muss immer mehr, immer extremer sein."

Dominik Batthyány ist Psychotherapeut in eigener Praxis in Wien. Zudem ist er Gründer und Leiter der Therapie- und Beratungsstelle für Verhaltenssüchte an der Psychotherapeutischen Ambulanz der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien sowie Leiter des Instituts für Verhaltenssüchte und Suchtforschung an ebendieser
Dominik Batthyány ist Psychotherapeut in eigener Praxis in Wien. Zudem ist er Gründer und Leiter der Therapie- und Beratungsstelle für Verhaltenssüchte an der Psychotherapeutischen Ambulanz der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien sowie Leiter des Instituts für Verhaltenssüchte und Suchtforschung an ebendieser © (c) Lukas Ilgner

Für Betroffene bringt all das einen hohen Leidensdruck mit sich. Die Fokussierung auf das Thema ist oftmals so stark, dass körperliche, psychische oder emotionale Risiken für einen selbst oder andere in Kauf genommen werden.

Ehemals Betroffener: "Hatte Sehnsucht nach Liebesbeziehung"

Auch Aaron nimmt damals keine Rücksicht. Die Sucht bestimmt längst sein Leben. "Das sind Exzesse gewesen. Am nächsten Morgen habe ich nicht gewusst, wo ich bin, wer neben mir liegt und was ich gemacht habe. Wenn ich das dann erfahren habe, war es ein In-Grund-und-Boden-Schämen."

Trotz seiner Sucht hat Aaron immer wieder Momente, in denen er Sehnsucht nach Liebe verspürt. Seine Versuche, eine Partnerschaft einzugehen, scheitern. Er realisiert, dass es immer dasselbe Muster ist, das sich in seinen Beziehungen abspielt. "Ich habe gemerkt, dass es an mir liegt." Er sucht eine Selbsthilfegruppe für Beziehungsprobleme auf. Zu diesem Zeitpunkt erkennt er noch nicht, dass deren Ursache in der Sexsucht liegt.

Wendepunkt: Der Weg aus der Sexsucht

Im Sommer 2007 – da ist Aaron gerade 24 Jahre alt – kommt der Wendepunkt. Nach einem Treffen mit seiner Mutter, in dem es auch um seine Frauengeschichten geht, drückt diese ihm einen Flyer der Anonymen Sexaholiker in die Hand, den er zu Hause achtlos in die Ecke wirft.

Der Leidensdruck wird zwischenzeitlich immer größer. Aaron ist so verzweifelt, dass er zum ersten Mal betet. Ein paar Monate später fällt ihm wieder der Flyer der Sexaholiker in die Hände. Da sei es ihm schließlich wie Schuppen von den Augen gefallen. In der Selbsthilfegruppe findet Aaron schließlich Unterstützung. Und er wendet sich dem Glauben zu. "Das war der Einstieg für mich: einen Glauben aufzubringen, der mir wirklich hilft, das Zwölf-Schritte-Programm durchzuarbeiten. Ich bin dann innerhalb weniger Tage abstinent und nicht wieder rückfällig geworden." 

Ehemals Sexsüchtiger: "Muss mein Leben lang aufpassen, wo ich hinschaue"

Der Weg aus der Sucht ist dennoch alles andere als einfach. Zuerst erlebt Aaron Hochgefühle, aber schon bald holt die Realität ihn ein. In manchen Momenten hat er das Gefühl, durchzudrehen. Täglich besucht er zu diesem Zeitpunkt die Selbsthilfegruppe, er telefoniert oder betet. "Es war ein weiter Weg der Heilung", sagt Aaron heute. "Als Süchtiger ist man gewohnt, immer den leichtesten Weg zu gehen. Oft hat man es schleifen lassen, dann merkt man: Ich muss die Arbeit wieder aufnehmen." 

Sexsüchtigen Personen rät Psychotherapeut Dominik Batthyány, sich jemandem anzuvertrauen. "Das mal auszusprechen und sich einzugestehen, das ist wichtig. Und sich dann Hilfe suchen – sei das in Selbsthilfegruppen oder mit therapeutischer Unterstützung." Parallel empfiehlt Batthyány Betroffenen, sich die Sucht genauer anzuschauen. "Warum macht man das eigentlich? Oft hat Sexsucht mit Themen zu tun, die primär nichts mit Sexualität zu tun haben, sondern mit einer ganz tiefen anderen menschlichen Ebene."

"Sind im glücklichsten Jahr unserer Ehe"

Aaron lebt heute seit mittlerweile 15 Jahren abstinent. Zu den Treffen der Anonymen Sexaholikern geht er nach wie vor – für sich selbst, aber auch, um andere Betroffene zu unterstützen. "Wenn ich denke, ich brauche das nicht mehr, bin ich schon in einem gefährlichen Fahrwasser. Ich muss mein Leben lang aufpassen, wo ich hinschaue, wo ich hingehe." Filme, die nicht jugendfrei sind, sind bis heute ein Tabu für ihn. Auch ins Schwimmbad ging Aaron jahrelang nicht: "Da war einfach zu viel nackte Haut. Heute habe ich damit glücklicherweise kein Problem mehr." 

Seit 2011 ist Aaron verheiratet und hat drei Kinder. Die Sexsucht hat er seiner Ehefrau gegenüber offen thematisiert: "Als wir uns kennengelernt haben, war ich bereits zwei Jahre abstinent. Ich habe ihr alles erzählt." Vor der Hochzeit habe Aaron "komplett asexuell" gelebt, wie er sagt. Erst danach sei das Paar intim miteinander geworden. "Die Nachwehen der Sucht begleiten uns bis heute. Aber wir raufen uns immer wieder zusammen, lesen viel miteinander und arbeiten an uns. Heute sind wir im glücklichsten Jahr unserer Ehe."