In der aktuellen Lage mit unseren vielfältigen Krisen: Welche Lehren aus dem letzten Jahr(en) können uns zuversichtlich stimmen?
ALENA BUYX: Wir sind in einer sehr belastenden Situation, weil wir nicht nur die Endphase der Pandemie zu bewältigen haben, sondern weil mit dem Ukraine-Krieg, Inflation und Energieknappheit weitere schwere Krisen hinzugekommen sind, ganz zu schweigen von der Klimakrise. Und wir konnten die Erfahrung der Pandemie noch gar nicht verarbeiten, die unser aller Leben hineingefahren ist. Aus diesem Grund ist es sehr wichtig, gleichzeitig darauf zu schauen, was wir auch geschafft haben. Wir sehen, dass die Gesellschaften in Österreich und Deutschland in der Lage waren, auf ein so tiefgreifendes Ereignis zu reagieren. Natürlich hat es viele Verluste und Belastungen gegeben, ebenso Ängste und Aufruhr. Aber es ist bewältigt – mehr oder weniger. Dass wir diese Zeit als Gesellschaft überstanden haben, stimmt mich ein wenig hoffnungsvoll mit Blick auf die Zukunft.

Sie haben die fehlende Aufarbeitung angesprochen. Wie sollte diese nun aussehen?
Wir sollten aus der Pandemie lernen, wie wir als Gesellschaften resilienter, widerstandsfähiger werden können. Das muss jetzt auch passieren, man kann das nicht aufschieben und sagen: Wir befinden uns in der Krise und können nicht lernen. Man muss jetzt entschlossen beginnen, Veränderungen vorzunehmen.

Man sagt, um Fehler künftig zu vermeiden, soll man Lehren aus gemachten Fehlern ziehen. Wo haben wir noch Aufarbeitungspotenzial?
Es ist nicht so, dass noch gar nichts passiert ist. Wissenschaftlich hat sehr viel Aufarbeitung stattgefunden. Eine wesentliche Lehre ist: Die Wissenschaft hat uns gerettet. Sie gab uns die Lösungen. Auch wir vom Deutschen Ethikrat haben uns in einem "Lessons Learned"-Papier damit beschäftigt, welche Lehren zu ziehen sind. Eine positive ist: Unsere rechtsstaatlichen, demokratischen Strukturen haben im Großen und Ganzen gut funktioniert. Das ist wichtig, gerade auch in Tagen des Krieges, sich das zu vergegenwärtigen.

Welche Versäumnisse wurden in diesem Papier dokumentiert?
Mehrere, ich gebe Ihnen ein Beispiel. Damit wir widerstandsfähiger werden, müssen wir schneller und besser erkennen, wer ist in einer Krise besonders verletzlich. Wir sind alle verletzlich. Aber es gibt eben Gruppen, die sind das auf besondere Weise. Wir müssen diese rasch erkennen und besser auf sie Acht geben, schneller handeln, sie schützen oder unterstützen. Und wir müssen im Blick behalten, wie sich Verletzlichkeiten verändern können.

Können Sie das konkretisieren?
Eine Gruppe, die das betrifft, ist die junge Generation. Anfänglich war diese nicht besonders verletzlich, jedenfalls nicht medizinisch. Es war sehr schnell klar, dass das Virus jüngere nicht so stark gefährdet wie etwa ältere Personen. Aber: Über die Dauer der Pandemie sind junge Menschen dann immer verletzlicher geworden, insbesondere was ihre soziale und psychische Belastung anbelangt. Das bessert sich gerade wieder etwas, aber nach wie vor ist die Belastung höher als vor der Pandemie. Ein Faktor waren die einschränkenden Maßnahmen. Aber eben nicht nur, das wird oft falsch beschrieben. In Europa sind die Länder unterschiedlich restriktiv vorgegangen. In Schweden gab es kaum Einschränkungen für Jüngere in Schulen und im Freizeitbereich. Dennoch ist die jüngere Generation dort genauso belastet wie in Italien, wo die Einschränkungen wirklich massiv waren. Das bedeutet, auch die Krisenerfahrung als solche trifft diese junge Generation besonders. Da müssen wir nachsteuern, das ist uns in Deutschland noch nicht ausreichend gelungen. Die Jungen haben sich solidarisch verhalten, wir haben ihnen als Gesellschaft aber nicht genug Solidarität zurückgegeben.

Wie können wir diese Solidarität zurückgeben?
Zum Beispiel braucht es sehr viel mehr Unterstützung im Bereich der psychischen Gesundheit, das haben wir gerade Ende September in unserer Ad-hoc-Empfehlung zu diesem Thema gefordert. Hinzu kommt, dass es im Gesundheitswesen hinsichtlich der jungen Generation strukturelle Versorgungsdefizite gibt. Auch in Deutschland laufen die Kinderkliniken gerade über, sind weit über ihrem Limit. Das ist problematisch. Wie sollen wir den kommenden Krisen begegnen, wenn jene, die die Gesellschaft von morgen gestalten werden, nicht ausreichend versorgt werden? Konkret sollten im Gesundheitswesen die Versorgungsbereiche für Jüngere deutlich aufgewertet werden. Das sind schwierige, harte Diskussionen, die anstehen, ob und wie man da umverteilen muss, zwischen unterschiedlichen Patientengruppen, zwischen Jüngeren und Älteren. Wenn wir diese nicht führen, werden wir auch nicht widerstandsfähiger.

Dass die gesellschaftliche Diskussionsbasis belastet ist, kann man auch an der Art und Weise erkennen, wie über die Aktionen von Klima-Aktivistinnen gesprochen und auch berichtet wird. Junge Menschen, die sich für ihre Zukunft und die des Planeten einsetzen und despektierlich als "Klima-Kleber" bezeichnet? Wie können wir diesem Problem begegnen?
Das ist eine Verzweiflung, die da zum Ausdruck kommt. Man mag über die Methoden sehr geteilter Meinung sein. Das Anliegen und diese Verzweiflung des überhaupt nicht gehört werden, ist etwas, was wir sehr ernst nehmen müssen. Die Politik und wir als Gesellschaft müssen viel stärker den Blick auf die Anliegen von jungen Menschen richten. Denn für junge Menschen ist es nicht theoretisch, wenn man über die Zeit in 30 oder 50 Jahren spricht. Das ist ihre Zukunft.

In Ihrem Vortrag an der Akademie der Wissenschaften sprachen Sie im Titel von einem gespaltenen Land – mit Fragezeichen dahinter. Woran müssen wir arbeiten, um die Spaltungserscheinungen nicht zu vertiefen?
Wir müssen Acht geben auf unsere öffentlichen Debatten. Es gibt seit der Pandemie messbar mehr Desinformation und Fake News. Es ist wissenschaftlich belegt, dass diejenigen, die Fake News mehr konsumieren und die Fake News gegenüber offener sind, stärker polarisierten, extremeren politischen Meinungen anhängen und stärker Demokratie ablehnende Tendenzen entwickeln. Das ist auch ein Thema der Medien, denn sie gestalten die öffentliche Debatte ebenso. Ich mag den Begriff der Spaltung nicht, die Gesellschaft ist nicht gespalten, aber es gibt Spaltungstendenzen, befeuert von dieser Polarisierung durch Fake News. Das muss uns Sorgen machen. Meine wichtigste Botschaft ist: Krisen meistert man nur gemeinsam, Widerstandsfähigkeit kann man nur aufweisen, wenn man als Gesellschaft, als Land, als Europa nicht auseinanderfällt.

Aber wie kommen wir da wieder auf das gleiche Niveau? Wie bleiben wir im Gespräch miteinander?
Das ist ein äußerst schwieriger Prozess. Die schlimmsten Phänomene müssen eingedämmt werden. Zum einen ist das die "Infodemie" samt der Fake News. Da gibt es schon viele großartige Einzelinitiativen. Aber das muss man skalieren – das meine ich mit ernst nehmen. Da braucht es mehr Geld, mehr Ressourcen, mehr Aufmerksamkeit, mehr Rechtsdurchsetzung. Das muss als ernsthafte Herausforderung für unsere Demokratie verstanden werden. Die Politik kann Einrichtungen schaffen oder bestehende neu ausrichten, die sich genau damit beschäftigen. Und auch wir als Wissenschaft müssen lernen, besser zu kommunizieren. Und ein letzter Punkt: Politikerinnen und Politiker sollten sich klarmachen, dass man sich dieser Polarisierungen nicht aus parteipolitischem Kalkül bedienen darf, das ist absolut toxisch. Wir brauchen diese gemeinsame Basis, sonst verlieren wir alle.

Wann können wir den Multi-Krisenmodus wieder beenden?
Da ist einmal ein Gewöhnungsprozess, wir lernen, mit der Situation zu leben. Und es geht uns insgesamt immer noch gut. Bei all der Betonung von Multi-Krisen, wir müssen nur in die Ukraine blicken, wo die Menschen im Krieg bei Minusgraden Weihnachten feiern. Das muss man sich immer wieder vergegenwärtigen. Und dann sind es all diese Dinge, die wir schon besprochen haben. Wir müssen gemeinsam an Krisen herangehen und sie gemeinsam bewältigen. Das ist nicht einfach. Dennoch wünsche ich mir mehr Mut und Zuversicht, dass wir das bewältigen können. Ich bin zuversichtlich, dass wir das schaffen werden. Im Alltag können wir aus den kleinen Dingen Kraft ziehen und als Gesellschaft müssen wir an das große Ganze denken und uns den harten Fragen stellen.