Untrainiert sei unser Immunsystem, heruntergefahren während der Pandemie aufgrund der Abstandsregeln und der Maskenpflicht. Die nun starken Wellen von RSV, Influenza und anderen Erkältungsviren sei die Folge davon. Diese Argumentation ist aktuell häufig zu hören. Doch entspricht sie auch den Tatsachen?

"Nein, unser Immunsystem ist nicht schlechter geworden durch die Pandemie", sagt Volker Strenger, Kinderinfektiologe (Universitätsklinikum Graz, Med Uni Graz). Denn das Immunsystem besteht aus mehreren Teilen, die sehr komplex zusammenwirken. Grob kann man es in das angeborene Immunsystem und das erworbene unterteilen. Das angeborene Immunsystem reagiert als Erstes auf Eindringlinge und Erreger, es wirkt sehr breit und unspezifisch. Die angeborene Abwehr entfaltet ihre Schutzwirkung über Haut und Schleimhäute sowie durch Abwehrzellen und bestimmte Eiweiße. Es wirkt gegen Fremdkörper, Verletzungen und Krankheitserreger.

Die unterschiedlichen Arme des Immunsystems

Das erworbene Immunsystem hingegen greift dann ein, wenn es dem angeborenen nicht gelingt, Erreger zu eliminieren. Doch um das tun zu können, muss es den Erreger erst erkennen und dann Zellen produzieren, die diesen unschädlich machen. Etwa über T- und B-Zellen sowie Antikörper. Beim zweiten Kontakt mit einem Erreger – oder nach einer entsprechenden Impfung – "erinnert" sich das erworbene Immunsystem an diesen und kann schneller reagieren. 

Das ist der Grund, wieso eine zweite Infektion meist schwächer verläuft. Genau dieser weitere Kontakt mit Erregern war während der Pandemie eingeschränkt. "Wir kommen ja grundsätzlich immer wieder mit RSV, Influenza und Ähnlichem in Kontakt", sagt Strenger. "Unser Immunsystem ist nicht weniger leistungsfähig geworden, aber diese Updates sind während der letzten zwei Saisonen ausgefallen und fehlen uns jetzt." Hinzu kommt, dass eine Covid-19-Infektion, wie andere Infektionen auch, eine Immunschwäche nach sich ziehen kann.

Das Fazit

Das bedeutet also, dass das Konzept der Immunschuld nicht zum Tragen kommt. Denn dieses besagt, man müsse, damit das Immunsystem vollumfänglich funktioniert, dieses regelmäßig mit Krankheitserregern konfrontieren. Quasi wie einen Muskel, den man ständig trainieren müsste. Doch diese Annahme ist falsch – siehe oben. Das bestätigt auch die deutsche Virologin Isabella Eckerle in einer Folge von Quarks (siehe Video). "Diese Vorstellung, dass man das Immunsystem trainieren muss, so wie man für Sport trainiert, die ist sehr simplistisch und wird der Komplexität des Immunsystems nicht gerecht", so die Expertin. "Wir haben keinen Hinweis darauf, dass man regelmäßig krank sein muss, um besonders gesund zu sein."