Seit fast einem Jahrzehnt hatte es in den USA keine Fälle von Kinderlähmung gegeben, im Bundesstaat New York sogar schon seit mehr als 20 Jahren nicht mehr. Die Infektionskrankheit galt in den USA als ausgerottet – so wie das auch in Europa und Österreich der Fall ist. Im Sommer aber infizierte sich ein junger Mann nördlich der Millionenmetropole New York, nun sind seine Beine teilweise gelähmt. Im Abwasser mehrerer Gemeinden des Bundesstaates und auch der Millionenmetropole wurden seitdem immer wieder Polioviren nachgewiesen.
"Wenn man einen Polio-Erkrankten mit Lähmungen hat, weiß man direkt, dass es ein größeres Problem gibt", hatte Polio-Expertin Diedrich vom Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin kürzlich erklärt. Denn nur in etwa einem von 200 Fällen führe eine Infektion zu den für Polio typischen irreversiblen Lähmungen – und das zudem nur bei Ungeimpften. Ein solcher Fall kann daher Hunderte Infizierte ohne Symptome in der Region bedeuten.
Katastrophenfall
Als Reaktion darauf rief Gouverneurin Kathy Hochul den Katastrophenfall aus. Das Risiko sei für nicht gegen Kinderlähmung geimpfte Menschen hoch, sagte die Gouverneurin und rief alle Einwohner auf, Immunisierungen, wenn nötig nachzuholen. Rund 14 Prozent der Kinder im Alter zwischen sechs Monaten und fünf Jahren sind den Behörden zufolge in der Metropole nicht oder nicht vollständig gegen Polio geimpft.
Kann dies auch in Österreich passieren?
Doch droht diese enorme Zunahme an Fällen auch in Österreich? Die Antwort lautet nein. Denn die Ursachen für den Ausbruch in den USA und auch anderen Regionen sind vor allem in zwei Punkten zu finden. Durch die 1988 initiierten weltweiten Impfkampagnen konnten bis heute rund 20 Millionen Menschen vor einer Lähmung und eineinhalb Millionen vor dem Tod bewahrt werden, wie es bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) heißt.
Punkt eins betrifft die Impfquoten. Diese sind vielerorts zu niedrig, nicht nur in den USA. In Israel war der Erreger Anfang März zunächst bei einem erkrankten vierjährigen Kind in Jerusalem nachgewiesen worden. Anschließend wurden weitere Fälle und im Abwasser mehrerer Städte des Landes Polioviren gefunden. In London wurden die Gesundheitsbehörden im Juni aufmerksam, als wiederholt Polioviren in Abwasserproben gefunden wurden. Allein dort sind nach Regierungsangaben Zehntausende Kinder gefährdet.
Um den Schutz zu erhalten, empfiehlt die WHO eine Durchimpfungsrate von 95 Prozent. In Österreich sind die Durchimpfungsraten je nach Altersgruppe äußerst unterschiedlich, wie aus dem Kurzbericht Polio des Gesundheitsministeriums hervorgeht – wir haben hier berichtet. Die Zahlen sind leicht rückläufig. Das liegt vor allem daran, dass im Jahr 2021 fast neun Prozent weniger Kinderimpfungen dokumentiert wurden als im Jahr 2020 – vor allem aufgrund der Coronaviruspandemie.
Die Frage nach den unterschiedlichen Impfstoffen
Bei den in den drei Ländern nachgewiesenen Erregern handelt es sich nicht um den Wildtyp des Poliovirus, sondern um Viren, die auf die Schluckimpfung mit abgeschwächten, aber lebenden Polioerregern zurückgehen. Sie können von Geimpften bis zu sechs Wochen lang ausgeschieden werden, anfangs ist auch eine Ansteckung über Speichel und Rachensekrete möglich. Auch andere Länder könnten Experten zufolge betroffen sein.
Was uns zu Punkt zwei und den Impfstoffen bringt: Israel nutzt als Schluckimpfung verabreichte Lebendimpfstoffe (OPV) – die USA und Großbritannien allerdings nicht. Dort sind seit Längerem – wie in Österreich – inaktivierte Impfstoffe (IPV) im Einsatz, die keine lebensfähigen Viren enthalten. Die in London und New York kursierenden Erreger wurden wahrscheinlich zunächst von Menschen eingeschleppt, die in ihrem Land die noch weit verbreitete Schluckimpfung erhalten hatten.
Polio-Impfung in Österreich
Die inaktivierte Polio-Impfung (IPV) ist in Österreich im kostenfreien Impfprogramm enthalten und wird laut dem heimischen Impfplan im Rahmen der Sechsfach-Impfung nach dem Zwei-plus-eins-Schema im 3., 5. und 11. bis 12. Lebensmonat geimpft. Im Schulalter wird die Kombinationsimpfung Diphtherie, Tetanus, Pertussis und Polio im 7. bis 9. Lebensjahr wiederholt. Nach der Grundimmunisierung im Säuglingsalter und Auffrischungsimpfung im Schulalter sollen Auffrischungsimpfungen mit einem Kombinationsimpfstoff gegen Diphtherie, Tetanus, Pertussis und Polio regelmäßig alle zehn Jahre erfolgen.