In Österreich haben wir nach den Anstiegen der letzten Tage eine sehr hohe Inzidenz, gemeinsam mit Slowenien sind wir europäische Spitzenreiter. Wie ist denn diese Steigerung einzuordnen und wo liegen die Ursachen?
PETER KLIMEK: Dieser Anstieg ist nicht überraschend, er ist lange erwartet worden, die Zahlen steigen ja auch schon länger. Als Ursache kommt nicht nur ein Faktor infrage, es kommen hier einige zusammen. So spielt das Wetter, das sich umstellt, eine Rolle. Das Verhalten der Menschen ändert sich nach dem Sommer, es treffen mehr Personen aufeinander, jetzt wo wieder alle aus dem Urlaub zurück sind. Zudem ist die Immunisierung der Bevölkerung über den Sommer zurückgegangen, und wir haben praktisch keine Maßnahmen mehr in Kraft. All das zusammen führt zu dem Anstieg, den wir gerade sehen.

Das bedeutet, der Schulbeginn als Erklärung ist zu kurz gegriffen? Ja, es ist ein Faktor von vielen. Wenn man sich die unmittelbar letzten Tage ansieht, war das Wachstum bei den 5- bis 14-Jährigen sogar etwas geringer als in den anderen Altersgruppen.

Braucht es aus Ihrer Sicht noch Maßnahmen, um das Infektionsgeschehen zu moderieren?
Wenn sich an der Variantenlage nichts Großartiges ändert, müssen wir nicht mehr Infektionen en masse reduzieren. Das bedeutet, der Fokus muss auf dem Schutz der vulnerablen Gruppen liegen. Da ist einiges verbesserungswürdig. Es gehört richtig kommuniziert, wer überhaupt zu diesen Gruppen gehört. In der jetzigen Phase ist es besonders sinnvoll zu testen, wenn ich weiß, dass ich ein Risiko habe, schwer zu erkranken, wenn ich erste Symptome spüre, um gegebenenfalls rasch mit der Therapie beginnen zu können und auch meine Kontaktpersonen warnen zu können. Das wären die Maßnahmen, über die wir diskutieren sollten. Ähnlich ist das beim Maskentragen, das wurde völlig überreguliert. Auch hier geht es darum, sein Risiko einzuschätzen. Wenn ich weiß, dass ich mich in einer Region aufhalte, wo eine von 100 Personen infiziert ist, dann ist es gescheit, in Innenräumen Maske zu tragen. Wenn nur eine von 10.000 Personen infiziert ist, wird die Maske nicht unbedingt notwendig sein. Diese Einschätzungen müssen wir lernen, selbst zu machen.

Wir wissen, dass im Vergleich zum Herbst 2021 sich 2022 weniger Menschen testen lassen. Wie hoch ist aktuell die Dunkelziffer, im Laufe dieser Woche hatten wir ja auch schon über 14.000 Neuinfektionen an einem Tag?
In dieser Hinsicht tappen wir im Dunklen. Wir wussten auch im Juli, als die Zahlen ähnlich hoch wie jetzt waren, schon nicht mehr genau, wie hoch die Dunkelziffer ist. Wenn man die Kurven der Abwasseranalysen und der Spitalsbelegung übereinandergelegt hat, konnten wir sehen, dass wir im Sommer tatsächlich eine sehr hohe Dunkelziffer hatten. Hätten wir ähnlich hohe Testraten wie zu Beginn des Jahres gehabt, wären die offiziellen Zahlen wohl zwischen 20.000 und 30.000 gelegen.

Wie hoch ist die Aussagekraft dieser Werte noch?
Der konkrete Wert der Neuinfektionszahlen ist kaum noch aussagekräftig. Er hat eigentlich nur mehr dann Bedeutung, wenn er stark ansteigt und auch alles andere nach oben zeigt. Was wir wirklich brauchen würden, sind Seroprävalenz-Studien, um ein wirkliches Bild des Immunisierungsgrades der Bevölkerung zu sehen. Auch ansehen kann man sich die Testpositivrate, diese liegt gerade bei etwa zwölf Prozent – auch das ein Zeichen, dass die Infektionsdynamik wieder stärker zunimmt.

Das bedeutet, es ist gar nicht mehr so notwendig, darauf zu schauen, wie hoch die Neuinfektionen sind?
Ja, es stellt sich die Frage, wie relevant das noch ist. Denn die Dunkelziffer wird auch deswegen hoch sein, weil es mehr und mehr Ansteckungen auch bei geimpften Personen bzw. geimpften und genesenen Personen gibt – das bedeutet bei Menschen, die schon einen gewissen Immunisierungsstatus haben. Typischerweise sind diese Ansteckungen dann kürzer und gehen dann mit weniger Symptomen einher. Das bedeutet, sie belasten das Gesundheitssystem auch nicht in dem Ausmaß.

Welche Bedeutung haben die hohen Infektionszahlen des Sommers für den Herbst?
Wir haben vor dem Sommer Szenarien bis in den Herbst formuliert. Unter dem damaligen Testregime hatten wir angenommen, dass sich der Höhepunkt dieser Herbstwelle zwischen 30.000 und 70.000 Fällen bewegen wird. Wir können diese Zahlen nicht eins zu eins auf die jetzige Situation übertragen. Die stärksten saisonalen Effekte hatten wir in den letzten beiden Jahren übrigens Ende Oktober. Bis dahin könnte sich die Welle nochmal verlangsamen und dann niedriger sein, aber dafür länger dauern. Im Sommer zeigten uns die Abwasserdaten, dass die Dynamik in den Bundesländern regional unterschiedlich war, mit einem deutlich höheren Abwassersignal in Wien. In Wien hat sich die Inzidenz in den letzten Wochen um etwa 50 Prozent erhöht, in Oberösterreich fast verdreifacht, in der Steiermark mehr als verdoppelt. Die Immunisierung könnte also regional sehr unterschiedlich sein und damit auch die Herbstwellen.

Das bedeutet, wenn die Zahlen jetzt steigen, nahm die Immunisierung der Bevölkerung zuvor ab?
Ja, genau. Im Durchschnitt kann man sagen, dass der Schutz vor Infektion nach Impfung bzw. Infektion nach 40 Wochen auf ein relativ niedriges Niveau abgesunken ist. Nun kann man zurückschauen, was vor diesen 40 Wochen passiert ist, und da sind wir mitten in der Phase, wo wir die Booster-Kampagne hatten, auch die Omikron-Wellen aufgekommen sind. Das bedeutet, die Immunisierung nimmt ab, die Infektionsdynamik nimmt zu. Aber, die Anzahl der schweren Verläufe geht nicht mehr in dem Maße mit.

Das heißt in weiterer Folge, dass die Prognose für den Spitalsbereich nicht dramatisch ist für den Herbst?
Das Covid-19-Register zeigt, dass 20 Prozent auf den Intensivstationen und 30 Prozent auf den Normalstationen ursächlich wegen Covid-19 betreut werden müssen. Die Analysen deuten in die Richtung, dass der Anteil "wegen Covid-19" immer kleiner geworden ist. Aber in Spitälern wie auch in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen, wo es ohnehin schon zu Arbeitskräftemangel kommt, kann es auch in dieser Pandemiephase wieder zu Situationen kommen, wo ein paar Prozent zusätzlich ausfallen.

Sie haben das Covid-19-Register angesprochen. Sind die Zahlen verlässlich, melden die notwendigen Stellen ein?
Mein Letztstand ist, dass 70 von 110 Krankenanstalten einmelden. Aber die Abdeckung ist regional sehr unterschiedlich. In der Steiermark ist die Abdeckung einigermaßen gut.

Welche Werte geben einen Überblick über die Infektionslage im Land?
Den einen Wert, der uns alles verrät, den hat es nie gegeben, und es gibt ihn auch heute nicht. Wir analysieren bei der Prognoseerstellung, was konsistente Trends innerhalb der einzelnen Indikatoren sind. Das sind die Positivtestungen, das ist der Spitalsbelag, das ist das Abwassersignal. Hinzu kommt die Beobachtung der Variantenlage und wie sich die Infektionen nach dem Immunstatus aufteilen. All das zusammen zeichnet ein Lagebild. Was uns fehlt, ist eine fundierte Abschätzung, wie hoch die Seroprävalenz ist.

Im Sommer wurde die Prognose umgestellt, nicht mehr Zahlen wurden genannt, sondern Trends. Ist das ausreichend?
Die Phase der Pandemie, in der es wichtig war, die Veränderung von einem Tag auf den anderen zu kennen, ist vorbei. Denn auch die Zeit, wo man mit dem Holzhammer Maßnahmen trifft, um das Infektionsgeschehen zu beeinflussen, ist vorbei. Es geht jetzt darum, dass man die richtigen Verhaltensanreize vermittelt, das Risiko richtig zu kommunizieren. Aus diesem Grund ist es legitim, dass man weggeht vom tagtäglichen Reporting und mehr auf die robusteren Wochentrends fokussiert.