Seit einigen Tagen ist die Aufregung groß – abzulesen ist das an verschiedenen Medienberichten sowie auch an diversen Postings in sozialen Medien. Denn eine Studie macht die Runde, die belegen soll, dass die Impfnebenwirkungen in der Realität höher sind als bisher angenommen. Genaugenommen solle es 40-mal mehr schwere Nebenwirkungen nach Covid-19-Impfungen geben, als bisher auf Basis des deutschen Meldesystems angenommen worden war.
Eine derart hohe Zahl verursacht kein Gefühl der Sicherheit. Umso wichtiger ist es, sich diese Untersuchung im Detail anzusehen. Denn jede Impfung, egal ob gegen Covid-19 oder FSME, kann Nebenwirkungen haben. Diese Risiken müssen kommuniziert werden und in Form einer Nutzen-Risiko-Abwägung in die Entscheidung, sich impfen oder nicht impfen zu lassen, einfließen können.
Woher kommen die Daten?
Kommuniziert wurden die massiv erhöhten Meldungen "schwerer Nebenwirkungen" vom Mediziner Harald Matthes in einem Beitrag bzw. einem Interview des deutschen Senders MDR. 0,8 Prozent jener Personen, die eine Covid-19-Impfung erhalten hatten, hätten demnach schwere Nebenwirkungen erlitten. Diese Daten entstammen einer bisher unveröffentlichten Studie, die Matthes selbst durchführt. Bisher haben demnach rund 40.000 Personen teilgenommen. Die kommunizierten Daten stehen im groben Widerspruch zu jenen Daten, die das Paul-Ehrlich-Institut, in Form seiner Melderate von Verdachtsfällen auf "schwerwiegende Nebenwirkungen" veröffentlicht. Diese liegt demnach bei 0,02 Prozent.
Die Matthes-Studie ist noch nicht abgeschlossen, das bedeutet, dass es anderen Fachleuten nicht möglich ist, diese Studie in ihrer Gesamtheit zu überprüfen. Überprüfen lässt sich lediglich, was zum Studiendesign, also wie diese Studie aufgesetzt ist, bekannt ist. Grundsätzlich handelt es sich bei dieser Untersuchung um eine Online-Umfrage, bei der man sich lediglich mit Eingabe einer E-Mail-Adresse anmelden muss. Das bedeutet, dass die Teilnehmer nicht zufällig ausgewählt werden. So kann auch nicht gewährleistet werden, dass die Probandinnen ein Abbild der Bevölkerung darstellen. Also können auf Basis dieser Daten keine Aussagen in Bezug auf die Gesamtbevölkerung gegeben werden. Zudem ist anzunehmen, dass sich eher Menschen anmelden, die auch Probleme nach einer Impfung hatten. In diesem Fall spricht man von einem Selektionsbias, der das Ergebnis verzerren kann.
Keine Kontrollgruppe vorhanden
Eine wissenschaftliche Studie ist vor allem dann aussagekräftig, wenn es eine Kontrollgruppe gibt. Das bedeutet – sehr vereinfacht dargestellt – dass man eine Gruppe hat, welche ein Präparat erhält, eine zweite erhält das Präparat nicht bzw. erhält ein Placebo. Schließlich kann man beide Gruppen vergleichen und auf die Effekte nach Gabe eines Präparats schließen. Doch diese Kontrollgruppe fehlt bei dieser Studie gänzlich.
Auch ist es im Rahmen dieser Online-Befragung nicht möglich festzustellen, ob ein Zusammenhang zwischen Impfung und Nebenwirkung besteht. Das PEI wie auch das Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (Basg) in Österreich verfolgen die Verdachtsmeldungen bei "schwerwiegenden Auswirkungen" nach. An dieser Stelle sei angemerkt: Jeder und jede kann Impfreaktionen und -nebenwirkungen melden, Ärztinnen und Ärzte sind dazu sogar verpflichtet – wir haben hier darüber berichtet. Allerdings ist eine Verdachtsmeldung keine Bestätigung für einen tatsächlichen Zusammenhang zwischen Impfung und gesundheitlicher Folge.
Matthes, spricht weiters davon, dass sich seine Ergebnisse, mit Ergebnissen anderer internationaler Studien decken würden. Dieser Behauptung widerspricht Leif Erik Sander, Leiter der Klinik für Infektiologie und Pneumologie an der Berliner Charité auf Twitter. Aus "qualitativ hochwertigen, international unabhängig begutachteten Studien" sei "eine Rate von 0,8 Prozent 'schwerer Nebenwirkungen' nicht ableitbar".
Charité distanziert sich von der Studie
Matthes selbst ist auf einer Stiftungsprofessur an der Charité tätig. Von einer Stiftungsprofessur spricht man dann, wenn ein Unternehmen oder eben eine Stiftung diese Stelle finanziert. Häufig ist das der Fall, wenn ein bestimmtes Forschungsgebiet gefördert werden soll. In Fall von Matthes' Posten geht es um "Integrative und Anthroposophische Medizin". Es ist bekannt, dass Vertreter der anthroposophischen Medizin Impfungen eher skeptisch gegenüber stehen.
Auch die Charité hat sich mittlerweile von der Studie distanziert. Gegenüber der Wochenzeitung "Die Zeit" sagte ein Sprecher, bei der offenen Internetumfrage handle es sich im engeren Sinne nicht um eine wissenschaftliche Studie. Und weiter: "Diese Datenbasis ist nicht geeignet, um konkrete Schlussfolgerungen über Häufigkeiten in der Gesamtbevölkerung zu ziehen und verallgemeinernd zu interpretieren."
Das Fazit
Wie eingangs erwähnt, gibt es bei jedweder Impfung das Risiko von Impfreaktionen und Nebenwirkungen. Dieses Risiko gehört offen und transparent kommuniziert. Auch das Meldesystem für vermutete Nebenwirkungen gehört – in Deutschland wie in Österreich – verbessert. Ebenso braucht es Anlaufstellen für Menschen, die von schwerwiegenden Auswirkungen beeinträchtigt sind. Doch vor allem in Bezug auf die Covid-19-Impfstoffe ist festzuhalten, dass diese sehr engmaschig überprüft wurden und immer noch werden.
Die Diskussion rund um die Covid-19-Impfstoffe ist enorm emotionalisiert. Doch diese Diskussion sollte faktisch geführt werden. Behauptungen und wenig wissenschaftliche Untersuchungen, wie jene von Harald Matthes, schüren die Verunsicherung in der Bevölkerung noch weiter. Die Daten sind weder belastbar noch überprüfbar. So sollte auch auf Basis dieser Untersuchung keine Impfentscheidung getroffen werden.