Es ist ein Trugschluss, Menschen mit einer überstandenen akuten SARS-CoV-2-Infektion als "Genesene" zu bezeichnen, erklärte der Wiener Lungenfacharzt Ralf Harun Zwick Mittwoch vor Journalisten. Seit März 2020 habe er Tausende Long-Covid Patienten behandelt, weil die Krankheit es vielen Betroffenen unmöglich macht, ihren Alltag und Job zu bewältigen, obwohl sie vorher jung, fit und ohne Vorerkrankung waren.
Erkrankung ernst nehmen
Im Gegensatz zur akuten Erkrankung würde Long Covid in der Öffentlichkeit kaum als Bedrohung wahrgenommen, und viele Arbeitgeber verstünden nicht, warum ihre Mitarbeiter nach einer Infektion oft nach mildem Verlauf später "schon wieder ausfallen", sagte Zwick, Leiter der ambulanten internistischen Rehabilitation der Therme Wien Med. "In den Statistiken haben wir Hunderttausende 'Genesene' - meiner Meinung gibt es solche aber gar nicht, sondern eine Vielzahl der Menschen haben sechs bis neun Monate danach massive Beschwerden".
Er bezeichnete Long Covid als "grausames Chamäleon", weil es bei den Betroffenen vielerlei Probleme "vom Kopf bis zu den Zehen", wie Gedächtnisstörungen, Haarausfall, Herz-, Lungen- und Darmbeschwerden verursacht. Long Covid tritt nicht nur sehr häufig (zu rund 75 Prozent) bei Personen auf, die bei der akuten Infektion einen schweren Verlauf hatten, sondern auch bei vielen Menschen, die "nur" etwa an Geschmacks- und Riechstörungen, mildem Fieber und grippalen Beschwerden litten, erklärte er: "In Wahrheit gibt es keine 'milden Verläufe', damit wird die Infektion bagatellisiert."
Keine Fälle bei Geimpften
Unter den Betroffenen seien viele junge, zuvor sehr fitte Leute ohne Vorerkrankung, die vorher teils Marathon gelaufen sind und einen anspruchsvollen Beruf und Privatleben meisterten, berichtete der Mediziner: "Teils können sie ihren Alltag und Job nicht bewältigen und nicht einmal selber einkaufen gehen." Besonders traurig sei es, dass all dies zu verhindern wäre. "Es gibt keinen Fall von Long Covid bei Personen mit Impfung", sagte Zwick.
Die Rehabilitationskliniken sind derzeit genauso mit Covid-19-Patienten ausgelastet und teils überlastet, wie die Intensivstationen, berichtete er. Deshalb würden Menschen mit chronischen Herz- und Lungenproblemen derzeit keine adäquate Behandlung bekommen. Dies werde sich in nächster Zeit auch nicht ändern. "Im Gegensatz zu vielen anderen Leuten weiß ich genau, was ich im kommenden Frühjahr machen werde: Nämlich mit meinen Kollegen die 10.000 Patienten mit Long-Covid aus der aktuellen vierten Infektionswelle betreuen", so der Mediziner.
Rehabilitation gut
Positiv sei, dass die Rehabilitation sehr gut wirkt. "Die Erfolgsquote ist sehr hoch: Nur fünf Prozent der Betroffenen bleibt nach den ersten sechs Wochen Rehabilitation so krank, dass sie nicht arbeiten gehen können", sagte Zwick. Auch wisse er von keinem Fall von Kindern unter zwölf Jahren. "Es betrifft aber zunehmend jüngere Menschen, darunter sind viele Jugendliche von 14 bis 17 Jahren, die dadurch aus der Schule gerissen werden", sagte er.
Anlaufstelle
Den Betroffenen rät er, zum Hausarzt zu gehen. Jener würde die Symptome abklären und sie je nach Bedarf zu Herz- und Lungenspezialisten, Neurologen oder direkt in eine Rehaklinik schicken.