Deutschland wird keine allgemeine Empfehlung, für die über 12-Jährigen aussprechen? Wie bewerten Sie diese Entscheidung?
MARTIN SPRENGER: Das ist eine gute Entscheidung, weil es eine sehr vernünftige und wissensbasierte Entscheidung ist.
Wenn man die Diskussion in Deutschland und Österreich in Bezug auf dieses Thema beobachtet, bekommt man den Eindruck, dass diese in Deutschland differenzierter geführt wird? Teilen Sie diese Einschätzung?
Es gibt eine ausführliche Begründung der Stiko, diese kann man nachlesen. Ein großer Unterschied ist, vom Nationalen Impfgremium gibt es nur eine sehr knappe Stellungnahme. Die Europäische Arzneimittelbehörde EMA ist für die Zulassung zuständig. Sie hat nicht die Impfung an sich empfohlen, sondern nur die Zulassung des Biontech/Pfizer-Impfstoffs auf Zwölf- bis 15-Jährige erweitert. Die Grundlage dafür war eine vor kurzem im „New England Journal of Medicine“ publizierte Studie.
Aber was bedeutet das nun?
Wenn ein Impfstoff zugelassen ist, kann er verwendet werden. Eine Empfehlung eines Impfgremiums ist eine Empfehlung, nicht mehr und nicht weniger. Letztendlich ist eine Impfung aber immer eine individuelle Entscheidung, die idealerweise gemeinsam mit einem Vertrauensarzt getroffen wird. Dabei geht es vor allem um den individuellen Schutz bzw. bei Zwölf- bis 15-Jährige um die Frage: Sollen sie sich impfen lassen weil sie dadurch einen Vorteil haben? Das ist die klassische Risiko-Nutzen-Abwägung, die jeder treffen muss, wenn er ein Arzneimittel zu sich nimmt – egal welches.
Hätten Sie sich gewünscht, dass die Diskussion in Österreich ähnlich differenziert abgelaufen wäre?
Ja, das wäre gut gewesen eine Empfehlung für einen Impfstoff gemäß den österreichischen Kriterien für gute Gesundheitsinformation zu begründen.
Wieso ist das Ihrer Meinung nicht passiert?
Das weiß ich nicht, da sollten wir die Vertreter des Impfgremiums fragen. Aber machen wir noch einen Schritt zurück. Wir haben einen zugelassenen Impfstoff der wirksam ist. Die viel schwierigere Frage lautet: Ist er auch sicher genug für gesunde Zwölf- bis 15-Jährige? Arzneimittelsicherheit bei gesunden Zwölf- bis 15-Jährigen hat einen noch viel höheren Anspruch als bei Diabetikern oder bei hochbetagten Menschen. Die Sicherheit bei Jugendlichen muss nahezu perfekt sein. Ich rede hier auch nicht von den häufig vorkommenden Impfreaktionen, sondern von sehr seltenen schweren Nebenwirkungen. Also unter einem Fall bei über 10.000 Impfungen. Können wir dieses Risiko auf Basis einer Studie mit 1005 Probanden, die den Impfstoff erhalten haben, bewerten? Nein, natürlich nicht. Was für mich wichtig ist zu betonen: 12- bis 15-Jährige können schon jetzt geimpft werden. Aber es gibt überhaupt keinen Grund politischen Druck aufzubauen, oder eine Impfung mit sozialer Teilhabe zu verknüpfen. Diese Altersgruppe ist nicht hochgradig gefährdet. Es gibt eine Registerstudie der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie, die gezeigt hat, dass in Deutschland zwischen März 2020 und April 2021 62 unter 19-Jährige wegen einer SARS-CoV-2 Infektion auf einer Intensivstation versorgt werden mussten. Bei insgesamt vier Kindern war COVID-19 die Todesursache. Im zehnmal kleineren Österreich gibt es rein anekdotische Zahlen. Da wird von hunderten Intensivfällen gesprochen, was im Vergleich zu Deutschland aber vollkommen unrealistisch und übertrieben erscheint.
Im Verlauf der Pandemie wurden Kinder als Treiber dieser und dann wieder als nicht wirklich von ihr betroffen bezeichnet. Wie sehr sind junge Menschen von dieser Pandemie betroffen?
Kinder können sich infizieren, sie können erkranken und im Krankenhaus landen. Die immer noch ungeklärte Frage ist, welchen Beitrag sie zum Infektionsgeschehen leisten. Aktuelle Studien gehen davon aus dass diese deutlich geringer ist als der von Erwachsenen. Sollten sie bei dem Gefährdungspotential geimpft werden? Ich sehe das so wie die Stiko und meine aktuell nein, weil wir das Nutzen-Risiko-Verhältnis noch nicht korrekt abschätzen können. Es wäre besser die Energie, die wir jetzt in diese Kinder-Impfungs-Diskussion stecken, in jene Gruppen investieren, die eine Impfung viel dringender brauchen. Da geht es vor allem um ausreichend Impfstoff, zielgruppenspezifische Information, niederschwellige Zugänge und vieles mehr.
An welche Gruppen denken Sie da?
Sozial schwache Gruppen, Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen, die vom Geschehen sehr weit weg sind, die teilweise in einer Betrachtung von Impfungen drinnen sind, die nicht der Realität entspricht. Da würde ich gerne mehr Bemühen sehen. Diese Debatte jetzt um die 12- bis 15-Jährigen ist voreilig und setzt die falschen Prioritäten. Der Impfstoff ist zugelassen und wenn Eltern ihre Kinder impfen lassen möchten, können sie das problemlos tun. Jede Form von Druck, so es direkt oder indirekt, ist abzulehnen und schadet auch dem Vertrauen in Impfungen. Viel besser ist es auf eine korrekte und verständliche Information zu achten.
Ist das Argument zulässig zu sagen: Impfen wir Kinder und Jugendliche, um ihnen eine möglichst ungestörte Teilhabe an Schule und sozialem Leben zu ermöglichen?
Nein, ich halte diese Debatte für sehr gefährlich. Die Einnahme eines Arzneimittels, egal welches, darf nicht mit sozialer Teilhabe verknüpft werden. Sichere und wirksame Impfungen für das Pandemie-Management äußerst wichtig, aber jede Emotionalisierung der Debatte halte ich für kontraproduktiv. Statt auch das Thema Impfungen für eine weitere Spaltung der Gesellschaft zu nutzen, sollte die Politik aber auch die Medien beginnen Brücken zu bauen, das Gemeinsame wieder vor das Trennende zu stellen.
Wie wird Schule dann aussehen, wie sollte sie aussehen?
Im besten Fall ohne jede Einschränkung. Wenn wir bis Anfang September eine Durchimpfungsrate von etwa 50 bis 60 Prozent erreichen, hätten wir gepaart mit der natürlichen Immunisierung zirka 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung immunisiert. Das sollte das Erkrankungsgeschehen soweit reduzieren dass Schulen wieder ohne Einschränkungen ihrem Bildungsauftrag nachgehen können. Das werden wir aber frühstens im August sehen. Jetzt im Juni schon über 3-G-Regeln in Schulen zu sprechen, halte ich für verfrüht und unnötig.
Aber sollten wir nicht darüber sprechen, welche Vorkehrungen für den Herbst treffen sollten?
Ich empfinde eine möglichst unbeschwerte Kindheit und Jugend für dermaßen zentral, dass ich alles tun würde, um den Kindern ein so normales Leben wie möglich zu bescheren. Wir haben zehn österreichische Gesundheitsziele die bis 2032 die Rahmenbedingungen vorgeben. Es wäre Zeit, dass die Politik sich wieder darauf besinnt. Da geht es nicht um geimpft oder nicht geimpft, da geht es um ein Mindset, das ich mir auch von der Politik erwarte.
Was genau meinen Sie damit?
Sars-CoV-2 wird nicht verschwinden, es wird ein Hintergrundrauschen geben. Menschen werden sich infizieren, erkranken und auch sterben, wie sie das auch aufgrund anderer Viren tun. Es gilt den Bereich zu definieren, den wir als Gesellschaft zu akzeptieren bereit sind. Wie wir das auch bei Verkehrsunfällen oder anderen Erkrankungen und Gesundheitsrisiken tun. Wir sollten aufhören unsere Gesellschaft aber auch Kinder nur mehr krankheits- und risikoorientiert zu betrachten. Kinder und Jugendliche sind unsere gesündeste Bevölkerungsgruppe. In dieser Lebensphase wird die Grundlage für ein langes Leben in guter Gesundheit gelegt. Um das zu sehen braucht es aber eine Gesundheitsorientierung, den Blick auf Ressourcen und Chancen. Natürlich wäre es gut wenn in Zukunft weniger Menschen krank arbeiten gehen müssen und kranke Kinder zu Hause bleiben. Dazu müssen aber auch Menschen in prekären Arbeitssituationen und alleinerziehende Eltern unterstützt werden.
Wie machen wird das?
Das weiß ich nicht. Die Politik muss sich, so rasch wie möglich von diesem medizinisch-virologisch-mathemischen Imperativ befreien. Präventive Maßnahmen wird es immer brauchen. Null Risiko geht nicht, in keinem Bereich unseres Lebens. Nehmen wir das Contact Tracing als Beispiel: In bestimmten Phasen der Pandemie macht das hochgradig Sinn. Die Frage ist nur: Wann hören wir wieder damit auf?
Wann hören wir wieder damit auf?
Gute Frage. Das ist eine Entscheidung, die man wissenschaftlich oder politisch treffen kann. Unbestritten ist, dass wir irgendwann wieder aufhören müssen gesunde Menschen wahllos zu testen, oder soziale Teilhabe an 3-G-Regeln zu knüpfen.
Aber aufgrund welcher Daten sollte diese Entscheidung getroffen werden?
In Israel wurde der grüne Pass Anfang Juni bei einer Durchimpfungsrate von 70 Prozent abgeschafft. Das war eine pragmatische und kluge Entscheidung. Österreich könnte sagen, wenn 50 Prozent der impfbaren Bevölkerung zwei Impfungen erhalten hat, ist der grüne Pass und die 3-G-Regel auf nationaler Ebene Geschichte. Für internationale Reisen wird uns das aber noch Jahre begleiten.
Welche Maßnahmen müssen aus Ihrer Sicht getroffen werden, um uns als Gesellschaft künftig gesund zu halten – abseits von Corona und der Pandemie?
In der ersten Phase der Pandemie war ein Riesenproblem die Unter- und Fehlversorgung von anderen Krankheiten. Das haben wir im Herbst besser in den Griff bekommen. Was uns noch länger beschäftigen wird, sind die psychosozialen Folgen. Manche wird das ihr Leben lang begleiten. Psychische Erkrankungen sind hauptverantwortliche für Frühpensionierungen und Krankenstände. Kinderarmut, Arbeitslosigkeit, all das sind Themen, die uns in den kommenden Monaten und Jahren beschäftigen werden und die wir bewältigen werden müssen. Auch diese ökonomischen Folgen haben einen Gesundheitsaspekt, das wird nur leider oft vergessen.
Wie können wir diese psychosozialen Folgen abfedern?
Die Politik muss den Ausstieg aus der Pandemie genauso moderieren, wie den Einstieg. Je unaufgeregter und sachlicher ihr das gelingt umso besser. Eine Pandemie ist ein gesamtgesellschaftliches Ereignis und kann nur im Kollektiv bewältigt werden. Das gilt auch für die Bewältigung der Folgen. Jetzt braucht es eine Sachpolitik die die Prinzipien und Werte einer demokratischen Gesellschaft hochhält.