Ein Jahr Pandemie, also fast. Da sei die Frage erlaubt: „Wie geht es uns? So als Gesellschaft? „Unsere Gesellschaft ist in einer veritablen Krise“, sagt Christa Rados, Primaria an der Psychiatrie des LKH Villach. Die Folgen dieser Pandemie werden wir ihrer Ansicht nach noch lange spüren: „Auch mit einer Impfung wird das alles nicht vorbei sein: Die Sorgen um die wirtschaftlichen Auswirkungen und beruflichen Existenzen werden längerfristig bleiben“, sagt Rados.
Resilienz alleine, also unsere menschliche Anpassungsfähigkeit, reicht nach elf Monaten Ausnahmezustand nicht mehr. „Selbst Menschen, die ein intaktes Familienleben, keine finanziellen Sorgen haben, spüren schön langsam, dass ihnen die Luft ausgeht“, so Rados.
Ursache: Die fehlende Perspektive
Und die Ursache ist nicht ein Lockdown, der auf den nächsten folgt – im Moment ist es die fehlende Perspektive. „Seit einem Jahr hören die Menschen, die nächsten Wochen werden die schlimmsten, die müssen wir noch überstehen, dann gibt es ein Licht am Ende des Tunnels“, erklärt Rados. „Aber dieses Licht rückt dann doch immer wieder ein Stückchen weiter weg. Das ist psychologisch verheerend.“
Diese psychosozialen Kollateralschäden sind auch in Daten festzumachen. Laut einer Studie des Departments für Psychotherapie und Biopsychosozialen Gesundheit an der Donau-Universität Kremsleidet rund ein Viertel der Bevölkerung an depressiven Symptomen, 23 Prozent an Angstsymptomen und 18 Prozent an Schlafstörungen. Rados gibt aber zu bedenken, man dürfe nicht annehmen, dass diese Personen alle psychisch krank seien. „Eine Zunahme an Ängsten oder dass man schlechter schläft, weil man Sorgen hat, ist in meinen Augen eine durchaus angemessene psychische Reaktion“, so Rados. „Die Probleme zu verleugnen oder zu bagatellisieren, würde ich in diesem Zusammenhang eher als unangemessene Reaktion ansehen.“
Angststörungen haben zugenommen
Die Zahlen aus der genannten Studie sieht Rados auch in ihrer täglichen Arbeit bestätigt. Angststörungen haben zugenommen. „Bei schwerkranken psychotischen Patienten beobachten wir eine Verschiebung der Inhalte der psychotisch verarbeiteten Realität, Covid-19 spielt im paranoiden Denken derzeit eine gewisse Rolle.“
Menschen, die zu Angstzuständen neigen, sind aktuell besonders belastet. „Da gibt es jene, die Angst haben, sich anzustecken und deswegen das Haus nicht verlassen. Oder jene, die Ängste vor sozialen Folgen wie vor einem Jobverlust verspüren. In jedem Fall steigt dann das innere Stresslevel.“ Das erhöhte Stresslevel kann wiederum Symptombildungen wie etwa das Auftreten von Panikattacken begünstigen.
Die psychische Verarbeitung der Pandemie ist allerdings individuell sehr unterschiedlich. So berichtet Rados auch von Patienten, denen zumindest der erste Lockdown etwas Erleichterung verschafft hat. „Einige meiner Patienten mit Angststörungen sagen etwa: ‘Ich bin nicht mehr der Einzige, der Angst hat, plötzlich verstehen mich die anderen.’“ Durch die Einschränkungen des sozialen Lebens, durch das „Drinnenbleiben müssen“ würde auch Druck von Menschen abfallen.
Kinder und Jugendliche stark betroffen
Am meisten Belastung verspüren aber Kinder und Jugendliche, das zeigt die Studie der Donau-Universität. 50 Prozent der jungen Menschen zwischen 18 und 24 Jahren leiden unter einer Verschlechterung der psychischen Gesundheit. „Junge Menschen, die schon das zweite Jahr nicht an ihre Ausbildungsstätte können, keine Praktikumsplätze bekommen und sich Sorgen um ihren beruflichen Einstieg machen, sind extrem belastet“, sagt Psychiaterin Rados.
Die zusätzliche Belastung zeigt sich auch in einem Anstieg an Essstörungen – sowohl bei Jugendlichen, wie auch bei Erwachsenen „Ich habe derzeit die dreifache Menge an Anfragen“, sagt Theresa Lahousen-Luxenberger. Die Psychiaterin betreut am LKH-Uniklinikum Graz stationär Erwachsene mit schwerwiegenden Essstörungen.
Aber was führt zu diesem enormen Anstieg? „Ein wichtiger Punkt ist sicherlich, dass gewisse ungesunde familiäre Dynamiken im Lockdown verstärkt zum Tragen kommen, wenn man rund um die Uhr Zeit miteinader verbringt“, sagt Lahousen-Luxenberger. Dazu kommt, dass sich viele Menschen isoliert, beklemmt und ängstlich fühlen. „Außerdem fällt viel an Sport und Aktivität weg. Betroffene denken sich dann oft: ‘Warum soll ich mir überhaupt Kalorien zuführen?’“ Ist eine Prädisposition für Essstörungen vorhanden, können diese Faktoren zum Ausbruch der Krankheit führen.
Struktur in den Alltag zurückbringen
Wie kann jeder Einzelne aber vorsorgen? Was kann man tun, um die psychische Gesundheit zu fördern? „Sein eigenes Ressourcennetzwerk zu nutzen, wird schon vieles abfangen können“, sagt Rados. Das bedeutet, Dinge zu tun, von denen man weiß, dass sie einem gut tun, sich mit nahe stehenden Personen austauschen. Vielleicht auch zeitweise auf Medien bzw. sozialen Medien verzichten. „Eine der wichtigsten Ressourcen ist, den eigenen Alltag zu strukturieren“, rät Rados – dazu gehört, sich entsprechend anzuziehen und fixe Essenszeiten einzuhalten.
Bemerkt man Auffälligkeiten am eigenen Essverhalten empfiehlt Lahousen-Luxenberger ein Ernährungstagebuch zu schreiben, um sich selbst besser beobachten und einschätzen zu können: „Dabei sollte man nicht nur notieren, was man gegessen hat, sondern auch aufschreiben, wie man sich nach dem Essen gefühlt hat.“
Der Zeitpunkt für professionelle Hilfe
Sollten all diese Strategien aber nicht helfen – wann ist der Punkt gekommen, an dem man sich professionelle Hilfe suchen sollte? Rados rät: „Hören Sie auf ihre Familie und Freunde. Wenn die häufig fragen ‘Was ist los mit dir?’ oder sagen ‘So kenne ich dich gar nicht, du bist nicht mehr du selbst’, dann ist das ein Indikator sich eine professionelle Beratung zu holen.“