Die Welt steht im Bann der Corona-Pandemie – doch der heutige 1. Dezember erinnert daran, dass es noch eine andere Pandemie gibt, mit der die Welt seit Beginn der 1980er-Jahre lebt. Die Anfänge klingen frappierend aktuell: Im Sommer 1981 reagiert die US-Seuchenschutzbehörde CDC alarmiert, als bei fünf homosexuellen, ansonst gesunden Männern eine seltene Lungenentzündung auftritt, die sonst nur Menschen mit schwachem Immunsystem befällt. Erst Mitte der 1980er-Jahre wurde schließlich jenes Virus entdeckt, das hinter dem erworbenen Immundefizienz-Syndrom, kurz AIDS steckt: HIV bekam seinen Namen. Die Abkürzung steht für Humanes Immundefizienz Virus. Laut Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO starben bisher 39 Millionen Menschen an der Seuche, die bis heute eine Pandemie darstellt.

„Sowohl AIDS wie auch Covid-19 waren sogenannte Emerging Diseases, also Erkrankungen, die neu ausgebrochen sind“, sagt Bernhard Haas, Infektionsspezialist der Steiermärkischen Krankenanstaltengesellschaft (Kages). 39 Jahre später ist HIV zu einer gut behandelbaren chronischen Erkrankung geworden – doch bis es so weit war, machte die Medizin und HIV-Forschung ganz ähnliche Stadien durch, wie sie nun bei Covid-19 im Zeitraffer passieren. „Auch bei HIV musste man zum Beispiel erst langsam und mühsam lernen: Wie steckt man sich wirklich an?“, sagt Haas – ganz ähnlich wie bei Covid-19 waren damals Infektionswege noch nicht restlos geklärt, Stichwort Aerosol-Übertragung. „Dass man sich küssen kann, ohne sich mit dem HI-Virus anzustecken, musste erst erforscht werden“, sagt Haas.

Parallelen zwischen den Pandemien

Dieses Video könnte Sie auch interessieren

Eine andere Parallele: der zeitliche Abstand zwischen Infektionsgeschehen in der Bevölkerung und den steigenden Fallzahlen in Krankenhäusern und Intensivstationen. Sind es bei Covid-19 nur 14 Tage bis drei Wochen, bis sich das Infektionsgeschehen in der Bevölkerung in den steigenden Fällen in Spitälern abbildet, dauerte das bei AIDS Jahre. „Doch die Modellierungen und Hochrechnungen sind sehr ähnlich und wären ohne HIV-Pandemie wohl nicht so gut entwickelt“, sagt Haas.

Bernhard Haas, Infektiologe
Bernhard Haas, Infektiologe © kk

Somit sieht der Experte deutliche Parallelen in der Pandemie-Genese – mit dem Unterschied, dass bei HIV alles viel länger gedauert hat. Nicht nur, weil es andere Zeiten mit anderen Forschungstechnologien waren, sondern auch weil die Krankheit zunächst vor allem nur gewisse Gruppen der Bevölkerung betraf und das allgemeine Interesse daher anfangs gedämpft war. Heute lässt sich retrospektiv sagen: „Viel virologisches und infektiologisches Grundlagenwissen, das wir heute bei Covid-19 anwenden, haben wir durch HIV gelernt“, sagt Haas.

Da sind zum Beispiel die Tests: Seit wenigen Jahren gibt es HIV-Tests auch bei uns in der Apotheke zu kaufen, solche Schnelltests als Diagnose-Tool für den massentauglichen Einsatz wurden für HIV entwickelt und kommen nun bereits für Covid-19 zum Einsatz. „Welche Materialien kann ich verwenden, was kann ich Patienten bei einem Selbsttest zumuten – das sind Lehren, die wir aus HIV gezogen haben“, sagt Haas.

Therapien kommen aus HIV-Forschung

Jene Länder, die auf Massentests zur Eindämmung der HIV-Epidemie gesetzt haben, haben heute Strukturen, die auch für Covid-19 genutzt werden können – das betrifft vor allem afrikanische Länder, mit einer weit höheren Durchseuchungsrate als hierzulande. Und auch die Therapieforschung zählt Haas als Beispiel auf: Antikörper-Cocktails, mit denen auch US-Präsident Donald Trump behandelt wurde und die kürzlich von der US-Zulassungsbehörde FDA eine Notfallzulassung erhalten haben, wurden vom Wirkprinzip her für HIV etabliert. „Es handelt sich dabei um spezifische Antikörper, deren dreidimensionale Struktur quasi am Reißbrett entworfen wird, damit diese passgenau an das Virus andocken“, sagt Haas.

Und auch für moderne Impfstoffe wurde der Weg unter anderem durch HIV bereitet: „Die leider bis dato erfolglose Geschichte der HIV-Impfstoffe hat dazu geführt, dass immer neue Technologien ausprobiert wurden“, sagt Haas. So gehen Vektor-Impfstoffe, wie jener, der jetzt von AstraZeneca gegen Covid-19 entwickelt wurde auf die HIV-Forschung zurück – dabei wird ein harmloses anderes Virus als Transporter für genetische Informationen des Coronavirus genutzt und das Immunsystem wird so auf das Coronavirus trainiert.

Noch immer keine HIV-Impfung

„Die Impfforschung musste so viel Neues probieren, weil wir bei HIV einfach nicht weitergekommen sind“, sagt Haas. Dass es noch immer keinen HIV-Impfstoff gibt, aber bereits drei Covid-Impfstoffe vor der Zulassung stehen, liegt laut Haas vor allem an der unterschiedlichen Beschaffenheit der Viren. Beim Coronavirus gebe es mit dem Spike-Protein ein klares Ziel. Beim HI-Virus treten hingegen viel häufiger Mutationen auf, die eine Impfung unwirksam machen können.

HIV gilt als gut behandelbar, braucht es da überhaupt noch die Suche nach Impfung oder wirklich heilender Therapie? „Ja“, sagt Haas entschieden, denn: Eine echte Heilung würde das Stigma, mit dem HIV-Infizierte noch immer leben, grundlegend verändern. Und eine Impfung könnte ein Baustein zu einer Heilung sein. Auch müsse man die globale Perspektive betrachten: Während die Versorgung der HIV-Patienten in westlichen Ländern sehr gut ist – die meisten müssen nur noch eine Tablette täglich einnehmen -, ist der Therapie-Zugang in vielen anderen Teilen der Erde noch lange nicht gesichert.

„Für viel Grundlagenwissen, das wir in der aktuellen Pandemie nutzen, hat HIV den Boden bereitet“, sagt Infektiologe Haas.