Der zweite Lockdown könnte auch als Beweis dafür genommen werden, dass das Prinzip der Eigenverantwortung in Österreich nicht funktioniert. Können Sie als Kenner der österreichischen Seele erklären, woran das liegt?

MICHAEL MUSALEK: Prinzipiell muss man vorsichtig sein mit „dem Österreicher“, denn wir sind ja nicht alle gleich. Aber: Es gibt Verhaltensmuster, die in Österreich sehr weit verbreitet sind, und die sind durch zwei Dinge gekennzeichnet. Einerseits die Neigung zum Bagatellisieren, andererseits zu dramatisieren und eine Riesenangelegenheit aus etwas zu machen. In einer Verhaltensweise haben wir sicher noch Entwicklungspotenzial: Darin, eine Situation so anzunehmen wie sie ist und sie dann selbstverantwortlich anzugehen. Wenn der Lockdown für Dienstag angekündigt wird, wird am Samstag noch all das gemacht, was unvernünftig ist. Ganz so als ob sich das Virus an die Verordnung hält. Und das ist nicht in allen Ländern so, denken wir an Schweden: Dort scheint der Großteil der Bevölkerung selbstverantwortlich zu agieren, deshalb sind dort auch andere Maßnahmen möglich.

Gleichzeitig mit dem Lockdown wurde ja auch die „Belohnung“ fürs Durchhalten präsentiert: Dafür gibt es dann ein Weihnachtsfest. Ist das die richtige Art, mit der Bevölkerung umzugehen?

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Zunächst sollte man nie Ankündigungen machen, von denen man nicht sicher ist, dass man sie einhalten kann. Denn: Tritt die Ankündigung nicht ein, bin ich nicht mehr glaubwürdig – unter diesem Blickwinkel halte ich die Ankündigung, dass wir Weihnachten retten können, für mutig. Ich hätte es anders formuliert: Wenn wir jetzt zusammenhalten, wird es schon bald wieder möglich sein, das freudvolle Leben zu genießen, denn dafür sind wir ja auch auf der Welt, nicht nur um zu Überleben. Zu sagen, am 8. Dezember ist alles wieder in Ordnung, da haben wir einen großen Einkaufstag und stecken uns dann alle wieder an – das sehe ich skeptisch.

Sie haben die erste große Studie zu den psychischen Folgen der Coronakrise in Österreich gemacht, dabei zeigte sich, dass sich ein Viertel der Bevölkerung psychisch belastet fühlt. Wie wird sich nun der zweite Lockdown auswirken?

Ein zentraler Aspekt dabei ist: Wie wird der Lockdown kommuniziert? Falls auch diesmal wieder nur über das Mittel der Angst kommuniziert wird, könnte der zweite Lockdown größere Folgen haben als der erste. Der Mensch hält langfristige Belastungen nämlich sehr schlecht aus, uns geht einfach die Luft aus. Es ist wichtig zu kommunizieren: Aus welchen Gründen werden die Maßnahmen gesetzt, wie lange dauern sie an? Die Entscheidungen müssen für die Menschen nachvollziehbar sein, sonst machen sie nicht mit. Im ersten Lockdown wurde auch ein ganz wichtiger Aspekt vergessen zu kommunizieren: Ja, wir haben es mit etwas Scheußlichem zu tun, aber daneben gibt es auch so viel Schönes in der Welt.

Michael Musalek, Psychiater
Michael Musalek, Psychiater © kk

Woran sollte man sich in diesem Sinne aufrichten?

Die Konzentration auf das Schöne hilft uns, das Scheußliche zu überstehen: Wir haben Zeit, die Bücher zu lesen, die wir schon lange liegen haben, können Musik hören, Filme sehen oder etwas tun, das wir uns sonst nicht gegönnt haben. Und das Wichtigste: Wir müssen mit anderen Menschen in Kontakt bleiben! Es ist völlig daneben, von sozialer Distanz zu sprechen – wir müssen körperliche Distanz einhalten, ja – aber wir können trotzdem sozialen Kontakt halten. Der Schlüsselfaktor dabei: Wenn wir uns durch diese Dinge besser fühlen, stärkt das auch unser Immunsystem!

Ist es die Aufgabe der Regierung, Menschen auf das Schöne hinzuweisen?

Das Schöne nicht zu vergessen, ist Aufgabe von uns allen, aber auch Aufgabe derjenigen, die an der vordersten Kommunikationsfront stehen und die Regeln machen. Es ist schon die Aufgabe der Regierung, auch Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen: Lautete im ersten Lockdown die Devise testen, testen, testen, dann sollte sie jetzt lauten: Schönes, Schönes, Schönes. Dann werden wir diesen Lockdown auch besser verkraften als den ersten. Ob das gelingt, wird sich erst Anfang nächsten Jahres zeigen. Dazu planen wir auch wieder eine Studie.

Die Dauerbelastung geht also weiter, uns stehen schwierige Monate bevor: Welche ungesunden Verarbeitungsmechanismen beobachten Sie?

Im Umgang mit der Belastung lauern zwei große Gefahren: Einerseits sich so sehr im Scheußlichen zu verstricken, sich in das Negative hineinzusteigern, dass sich diese Wechselwirkung von selbst verstärkt und man die Realität als viel dramatischer wahrnimmt als sie eigentlich ist. Es ist ja so: Wenn man sich in einer Pandemie an Hygieneregeln hält und sich selbst schützt, ist man ja relativ sicher. Es ist nicht so wie im Krieg – ein unpassender Vergleich, der immer wieder gezogen wird – da bin ich den Geschehnissen ausgeliefert. Wir sind jetzt in einer ernsten Situation, aber die ist letztlich bewältigbar.

Und was ist die andere Gefahr?

Das ist die Negation der Wirklichkeit: Dass man das ganze nicht mehr ernst nimmt und so tut als hätte die Pandemie, das Virus nichts mit mir zu tun. Das kann gesamtgesellschaftlich zu einer Verschlechterung der Infektionslage führen. Was wir hingegen tun sollten: Die Situation so annehmen wie sie ist: nicht beschönigen, aber gleichzeitig zu sehen: Die Welt hat nicht aufgehört auch schön zu sein.

Verdrängen und leugnen sind Strategien, die in den letzten Monaten immer häufiger zu beobachten waren: Dann hieß es: „Das Virus ist ja gar nicht so schlimm, mir kann eh nix passieren.“ Kann es überhaupt gelingen, noch einmal die ganze Bevölkerung ins Boot zu holen?

Das Wunderbare am Menschen ist, dass er lernfähig ist und auch fähig, einen neuen Weg einzuschlagen. Ich sage aber nur: Er ist dazu fähig, diese Fähigkeit muss jetzt genutzt werden. Jetzt ist auch Optimismus angebracht, denn: Wenn wir vorher schon sagen, das bringt eh nix, dann kommen wir in eine self-fulfilling prophecy: Das erwartete Schlechte tritt unweigerlich ein.