Im ersten Lockdown trug das Gefühl der gesellschaftlichen Verbundenheit dazu bei, dass sich Menschen an die Maßnahmen zur sozialen Distanzierung hielten, zeigen erste Studienergebnisse. In die zweite, abgeschwächte Auflage des Lockdowns gehen viele nun mit mehr Skepsis. Für den Psychologen Claus Lamm ist das Gemeinschaftsgefühl ein zentraler Schlüssel im Umgang mit den neuen Maßnahmen. Das gesellschaftliche Auseinanderdriften wirkt dem aber entgegen.
Lamm und zahlreiche Kollegen von der Fakultät für Psychologie der Universität Wien starteten während des ersten Herunterfahrens des Alltags in Österreich und vielen anderen Ländern im April mehrere Untersuchungen zu den psychischen Auswirkungen, Wahrnehmungen und Einstellungen in der beispiellosen Situation. Einerseits war dies eine siebentägige Tagebuchstudie in Österreich und Italien mit an die 800 Teilnehmern zum Sozialverhalten in Zeiten der sozialen Distanzierung. Andererseits beteiligte man sich an einer groß angelegten internationalen Untersuchung über Einstellung zu den Maßnahmen, Kooperationsbereitschaft, Risikowahrnehmung, Verhalten oder Glaube an Verschwörungstheorien, die in über 60 Ländern und mehr als 35.000 Personen insgesamt durchgeführt wurde.
Lage in Österreich
In Österreich wurde hier eine repräsentative Stichprobe mit 1.000 Personen befragt. Erste noch nicht in Fachzeitschriften vorgestellte und von Fachkollegen überprüfte Teilergebnisse zeichnen bereits ein vielfältiges Bild, so der Experte für Soziale Neurowissenschaften im Gespräch mit der APA.
Demnach halten sich "Personen, die sich selbst eher als Teil der Gesellschaft wahrnehmen, viel eher an Regeln wie Händewaschen oder Kontakte einschränken". Ein Gefühl der Zugehörigkeit sorgt demnach für ein stärkeres Befolgen der Maßnahmen. Derartige Effekte sind aus etlichen anderen sozialpsychologischen Untersuchungen wohlbekannt.
Genau diesem Punkt kommt nun angesichts des zweiten Lockdowns große Bedeutung zu: "Das Gemeinschaftsgefühl nicht zu verlieren, ist - denke ich - eine ganz wichtige Herausforderung", sagte Lamm auch im Hinblick auf die politische Kommunikation. Die mittlerweile lange Dauer der Krise, das anhaltende Gefühl des Nicht-Bescheidwissens und die komplexe und unübersichtliche Situation an sich bringe das Gefühl mit sich, "dass die Gesellschaft ein Stück weit auseinanderdriftet". Der "starke Solidaritätsgedanke" des ersten Lockdowns erodiere stellenweise.
Große Unterschiede bei Betroffenheit
Das liege auch daran, dass verschiedene gesellschaftliche Gruppen recht unterschiedlich von den wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen betroffen sind. Kommt der aktuelle Lockdown etwa den Skigebieten im Westen des Landes vielleicht längerfristig zu Gute, sieht das die Tourismusbranche der Thermenregionen im Osten eher anders. Ähnliche, immer stärker greifbare Unterschiede gibt es in vielen Bereichen. "Das ist ein extrem komplexer Spagat, den man auch von politischer Seite irgendwie hinkriegen muss", so der Emotionsforscher.
Dazu kommt auch eine Gruppe an Personen, die angesichts der Belastungen auf "einfache Lösungen" setzen. "Das ist natürlich eine fatale, aber auch verständliche Strategie aus der Sicht eines Psychologen: Wir haben hier eine hochkomplexe Situation mit vielen, sich teilweise widersprechenden Informationen. Das legt natürlich die Tendenz nahe, es sich einfach zu machen" und alles mitunter als Erfindung, Humbug und Symptom von Zahlenmanipulationen abzutun. Leider ist die Realität jedoch kompliziert und das sollte auch deutlich so angesprochen werden, so Lamm: "Die Realität passt sich ja leider nicht an unsere Intentionen an."
So verlief die Tagebuchstudie
Bei der Tagebuchstudie wiederum, bei der die Teilnehmer fünf Mal täglich über ihr Smartphone u.a. über ihre Stimmungslage oder ihr Stressniveau Auskunft gaben, wurde auch das Level das Stresshormons Cortisol über Haarprobenbestimmt. Hier zeigte sich u.a., dass "das Stressniveau im Mittelwert nicht unbedingt durch die Decke geschossen ist".
In Untergruppen "sieht man aber sehr wohl extreme Werte", so der Forscher. Dies war vor allem bei Menschen mit psychiatrischen oder psychologischen Vorerkrankungen so. Interessanterweise waren die selbstberichteten Stresswerte aber auch bei vielen jüngeren Erwachsenen zwischen 20 und 30 Jahren im Schnitt erhöht. Das decke sich auch mit anderen einschlägigen Studien, die darauf hinweisen, dass diese Gruppe mit dem Lockdown außergewöhnlich zu kämpfen hatte.
Das liege vermutlich daran, dass diese Altersgruppe, die sich gerade am Sprung in den Arbeitsmarkt befindet, die pandemiebedingte Krise besonders trifft. Viele junge Erwachsene seien auch weniger in ein familiär geprägtes Netzwerk eingebunden. Man denke hier etwa an Studenten oder Jobeinsteiger. Dazu komme als weiterer Erklärungsansatz, dass dieser Gruppe vielleicht ein Stück weit die Erfahrung mit persönlichen oder gesellschaftlichen Krisen fehle. Dass es dieses Alterssegment aber so stark trifft, habe man im Vorhinein nicht unbedingt erwartet, so Lamm.