Die Welt fühlt sich gerade an wie ein nicht enden wollender Katastrophenfilm: Wie lässt sich so viel Schrecken begreifen?
DORIS WOLF: Seit Beginn des Jahres erleben wir hautnah eine Pandemie, die das Leben jedes Einzelnen in irgendeiner Weise beeinflusst. Dann die Bilder, die am Montagabend aus der Wiener Innenstadt übermittelt wurden. Sie haben uns gezeigt, wie rasch sich Dinge ändern können. Nichts ist selbstverständlich. Trotzdem sollten wir nicht in Panik ausbrechen, sondern einen kühlen Kopf bewahren.

Wie bewahrt man einen kühlen Kopf, wenn sich die Negativmeldungen nur so überschlagen?
Auch wenn momentan viele schwierige Situationen zur selben Zeit aufeinandertreffen, sollten wir unseren Aufmerksamkeitsfokus nicht ständig auf negative Dinge richten, sondern uns auf unsere Stärken besinnen. Jeder von uns hat schon einmal eine schwierige Lebenssituation gemeistert. Was hat uns dabei geholfen? Welche Eigenschaften, welche Fähigkeiten haben dazu beigetragen, dass wir aus der Situation nicht nur gut herausgekommen sind, sondern auch gereifter und stärker? Wofür lohnt es sich, sich den schwierigen Situationen des Lebens sowie seinen Ängsten zu stellen?

Woran kann man sich in so schwierigen Zeiten konkret aufrichten?
Gerade jetzt ist es wichtig, auf eine gute Selbstfürsorge zu achten und Dinge zu tun, die uns guttun, um unsere Resilienz zu stärken. So, wie wir mehrmals täglich unsere Hände waschen, sollten wir auf die Hygiene unserer Psyche achten und unsere Gedanken vor dem „Angst-Virus“ schützen. Denn dieses ist ohne Berührung, über Bilder und Worte, hochansteckend. Mit wohlbedachten Worten können wir statt der „Angst-Samen“ positive „Samen der Achtsamkeit“ in die Welt säen. Wie Buddha sagte: „Wir sind, was wir denken. Alles, was wir sind, entsteht in unseren Gedanken. Mit unseren Gedanken formen wir die Welt.“

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Doris Wolf ist Klinische und Gesundheitspsychologin
Doris Wolf ist Klinische und Gesundheitspsychologin © Christian Jungwirth

Es wurde bereits vor dem zweiten Lockdown vor den psychischen Kollateralschäden gewarnt. Wie sehr verschlimmern Lockdown und Terror die Lage?
Die mit der Pandemie verbundenen Lebensveränderungen und -einschränkungen bedeuten für uns eine enorme Stressbelastung. Das mediale Miterleben der Terror-Bedrohung in unserer Bundeshauptstadt kann zusätzlich zu erhöhter Ängstlichkeit in der Bevölkerung, zu psychisch instabilen Zuständen beitragen: dem Nährboden für die Entwicklung psychischer Erkrankungen. Angst bedeutet eine vermehrte Ausschüttung von Stresshormonen. Daher sollten wir unser ganzes Augenmerk auf resilienzfördernde Maßnahmen legen, die zur Stärkung sowohl unseres physischen wie auch unseres „psychischen Immunsystems“ beitragen können.

Über soziale Medien haben sich Videos vom Terror in Wien in Windeseile verbreitet. Wie kann man mit dem Gesehenen umgehen?
Unser Gehirn liebt Bilder, sie prägen sich viel stärker ins Gedächtnis ein als Worte. Daher sollten wir uns vor zu vielen brutalen Bildern schützen, indem wir bei belastenden Nachrichten beispielsweise den Blick abwenden und nur dem Text zuhören. Vor allem Menschen, die wissen, dass sie solche Bilder nur schwer wieder aus dem Kopf bekommen und selbstverständlich Kinder benötigen hier besonderen Schutz. Sobald unangenehme Bilder auftauchen, kann man versuchen, sie durch angenehme Erinnerungen zu ersetzen oder sich mit anderen Tätigkeiten abzulenken. Wenn das auf Dauer nicht hilft, sollte man überlegen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Der zweite Lockdown ist gestartet, wir werden unsere Leben wieder massiv einschränken müssen. Die WHO warnt vor einer steigenden Corona-Müdigkeit. Wie schafft man es jetzt, in Hinblick auf die Corona-Maßnahmen motiviert zu bleiben?
Keiner möchte daran denken, dass jemand aus unserem vertrauten Kreis einen schweren Krankheitsverlauf erleben könnte. Daher sollten wir alles tun, um unsere Lieben, aber auch die vulnerablen Gruppen, davor zu schützen: Hände waschen – Mund-Nasen-Schutz – zwei Babyelefanten Abstand halten.

Der erste Lockdown war im Frühling. Nun ist es Herbst, es wird dunkler und kälter. Das schlägt aufs Gemüt. Wie kommt man durch den Herbst-Lockdown?
Auch wenn nasses, kühles Wetter eher zum Verweilen auf der Wohnzimmercouch einlädt, sollten wir uns vermehrt der Bewegung im Freien widmen. Einerseits, um unser physisches Immunsystem zu stärken. Anderseits, um unsere Stimmung zu verbessern und unser „psychisches Immunsystem“ zu stärken. Bei sportlichen Aktivitäten kurbeln wir unsere körpereigene Glückshormon-Produktion an. Geht es unserer Psyche gut, geht es auch unserem Körper gut – und umgekehrt.

Was raten Sie insbesondere jenen Menschen, die an Herbst-/Winterdepressionen leiden?
Die Ursache von Herbst-/Winterdepressionen liegt im Lichtmangel. Daher würde ich empfehlen, jeden Sonnenstrahl zu nutzen, um Licht zu tanken. Auch, wenn die Tage im Herbst trüber werden, bei jedem Wetter tagsüber im Freien Bewegung zu machen. Menschen mit Herbst-/Winterdepressionen empfehle ich, während dieser Monate eine morgendliche Lichttherapie mit Lichtlampen, die mehr als 10.000 Lux haben, zu machen und den Vitamin-D-Spiegel überprüfen zu lassen.

Wir sind dazu aufgerufen, unsere Sozialkontakte einzuschränken: Wie lassen sich Krisen ohne körperliche Nähe bewältigen?
Mithilfe von regelmäßigen Telefon- und Video-Kontakten sowie gemeinsamen Spaziergängen mit dem berühmten Babyelefanten dazwischen. Tierliebende Singles, die schon länger damit geliebäugelt haben, könnten sich überlegen, ob sie sich jetzt vielleicht ein Haustier zulegen möchten, das sie streicheln können. Das Bindungshormon Oxytocin, das beim Streicheln ausgeschüttet wird, hat nachweislich eine beruhigende Wirkung auf uns.

Wenn jemand generell wenig soziale Kontakte und auch ein Haustier keine Option ist, lässt sich das Gehirn austricksen, beispielsweise durch eine Selbstumarmung? Was gibt es für Alternativen?
Es tut einfach gut, was Warmes, Weiches zu spüren. Man kann sich zum Beispiel auch ein großes Kuscheltier kaufen: Warum nicht, wenn ich alleine bin? Alternativ geht natürlich auch ein großer Polster, den man zum Einschlafen umarmen kann. Es gibt so viele Dinge, die guttun können, zum Beispiel auch Massagen oder ein Wannenbad.

Wie kann man es schaffen, auch etwas Positives aus dem Lockdown für sich mitzunehmen?
Wir können den Lockdown nützen, um mehr Achtsamkeit und Selbstfürsorge in unser Leben zu bringen: Das Leben bewusster genießen, ein gemütlicheres Lebenstempo einziehen lassen und uns verstärkt Dingen widmen, die uns guttun.

Wie kann man sich selbst freudvolle Punkte in der Zukunft schaffen, wenn kein Urlaub, keine Feier ansteht?
Wir können in unserer „inneren Schatzkiste“ nach schönen Erinnerungen suchen, Fotoalben oder Urlaubsvideos ansehen und Pläne schmieden, was wir nach dem Lockdown unternehmen können – „Luftschlösser“ bauen, die wir dann in die Realität umsetzen können.

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