Pro
Wir kommen nur mit Solidarität durch die Pandemie. Gibt es unter uns Mitmenschen, denen die einfachsten Regeln egal sind, braucht es leider Beschränkungen für das Wohl aller - das ist die Meinung von Hans-Peter Hutter.
Dem Virus ist es völlig egal, zu welcher Uhrzeit oder in welchen Umständen es weitergegeben wird. Mit Maßnahmen wie einer vorverlegten Sperrstunde, dem verpflichtenden Tragen des Mund-Nasen-Schutzes (MNS) in Innenräumen oder der Beschränkung der Teilnehmerzahlen bei Treffen wird versucht, Übertragungsmöglichkeiten zu reduzieren. Am Beispiel einer früheren Sperrstunde, wie sie in Westösterreich gilt, lässt sich das erklären. Clusteranalysen über Superspreader-Ereignisse lieferten Informationen darüber, welche Situationen besonders riskant sind: überfüllte Innenräume mit ausgelassener Stimmung, wo sich die Abstandsregel in der Alkoholwolke förmlich auflöst.
Hauptakteure sind eher junge Leute. Gerade diese Gruppe spielt momentan eine Schlüsselrolle in der Übertragung des Virus. Jugendliche Leichtsinnigkeit gepaart mit dem Gefühl: „Ich erkranke eh nicht schwer, was soll schon passieren?“, machen das Ganze noch schwerer. Abgesehen davon, dass auch junge Menschen – seltener, aber doch – schwer erkranken können, ist es unvermeidlich, dass das Virus aus dieser Gruppe heraus in Risikogruppen getragen wird.
Also versucht man als Erstes, Überzeugungsarbeit zu leisten: Bitte nehmt die paar Schutzmaßnahmen ernst. Doch leider erzielt das nicht immer die erhoffte Wirkung – daher braucht es Rahmenbedingungen, damit Lokale, in denen gefeiert wird, nicht zum Ausgangspunkt von Infektionsketten werden. Besucht ein Infizierter an einem Abend fünf, sechs Lokale, kann es dort überall zu neuen Ansteckungsketten kommen. Mit einer früheren Sperrstunde wird dieses Lokal-Hopping eingeschränkt.
Zusätzlich muss sich mehr Aufklärungsarbeit auf junge Menschen fokussieren: Wir möchten nicht, dass eine „Jetzt erst recht“-Mentalität ausbricht. Man kann feiern, aber eben mit Hirn. Wir müssen klarmachen: Selbst wenn ihr euch unverwundbar fühlt, ihr könnt jemanden in eurer Familie anstecken, der zur Risikogruppe gehört. Jeder trägt die Verantwortung, dass er oder sie niemanden ansteckt.
Mit einer solchen Pandemie hatten wir in Europa seit der Spanischen Grippe nicht zu tun: Wir kommen nur gut und ohne Lockdown durch, wenn wir Solidarität leben. Leider war unsere Zeit vor der Pandemie stark von Individualismus und Egoismus geprägt. Von dieser Ich-Mentalität muss der Weg hinführen zum Wir-Gefühl. Gibt es unter uns Menschen, die sich nicht an simple Regeln halten (Abstand einhalten, MNS tragen, Hände waschen), braucht es leider Beschränkungen.
KONTRA
Angst ist nicht nur ein schlechter Ratgeber, sie erschwert das Lernen enorm: Das Virus wird uns noch lange begleiten, wir müssen gemeinsam lernen, damit gelassen und konsequent zu leben - das ist die Meinung von Kurt Langbein.
Wird der Freiheitsspielraum eingeschränkt oder eliminiert, so ist die oder der Handelnde häufig bestrebt, ebendiesen Spielraum wiederherzustellen“, lautet ein Kernsatz der Motivationspsychologie. Je schärfer der Druck, desto intensiver diese „Reaktanz“, wie Psychologen das nennen. Angst ist nicht nur ein schlechter Ratgeber, sie erschwert das Lernen enorm.
„Das Virus wird Krankheit, Leid und Tod für viele Menschen in unserem Land bedeuten“, erklärte Bundeskanzler Sebastian Kurz, warum ab 16. März fast alle wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Tätigkeiten verboten wurden. Das Gesundheitssystem würde sonst überlastet und Zehntausende Tote wären zu erwarten.
Die meisten Menschen hielten sich an die Verbote, und als sie von ihren Beschützern, den Regierungen, aufgehoben wurden, dachten alle, dass die Gefahr vorbei sein muss. Die Art, wie die Verbote gelockert wurden, zerstörte die Glaubwürdigkeit – in Geschäften unter 400 Quadratmetern durfte man einkaufen, in größeren nicht, im Lebensmittelhandel musste man Masken tragen, beim Kleiderkaufen nicht. Die „Reaktanz“ war und ist an den Zahlen der Infizierten zu merken.
Derzeit ist bei uns ein Mensch von 1000 positiv getestet, also kein Grund für Alarm – für Vorsicht und Umsicht aber schon. Wir wissen sehr genau, was die Infektionszahlen in die Höhe treibt. Das Virus ist nicht sehr ansteckend, 80 Prozent der Infizierten stecken niemanden an. Aber die anderen 20 Prozent können unter bestimmten Voraussetzungen zu „Superspreadern“ werden: Wenn es in Innenräumen eng und laut wird, beim Singen, Tanzen, Sich-schreiend-Verständigen. Fast immer braucht es 10, 15 Minuten auf Tuchfühlung.
Hier muss Prävention ansetzen. Informationen über „Cluster“ und ihre Entstehungsgeschichte wären wichtiger als angebliche Horrorzahlen und Schreckensmeldungen. Mit Überzeugung, konkreten Appellen und sozialem Druck. In Ländern, die so verfahren sind und ihrer Bevölkerung den Lockdown erspart haben, funktioniert das. Aber in den Lockdown-Staaten gibt es Probleme.
Erneut verschärfte Verbote erzeugen wohl nur das Gegenteil des Beabsichtigten. Wenn die Gasthäuser um 22 Uhr sperren müssen, verschwinden feiernde Menschen aus dem öffentlichen Raum, feiern werden sie trotzdem. Und auch neun Personen können sich anstecken, wenn sie häufige Infektionswege nicht vermeiden.
Das Virus wird uns noch sehr lange begleiten. Wir müssen gemeinsam lernen, damit gelassen und konsequent zu leben.