Herr Professor Musalek, Sie haben die erste große Studie zu den psychischen Folgen der Coronakrise in Österreich gemacht und kommen zum Schluss: Wir stehen erst am Anfang einer psychosozialen Pandemie. Was bedeutet das?
Michael Musalek: Eine Pandemie beschreibt eine Erkrankung, die sich schnell ausbreitet und hochansteckend ist. Das gibt es nicht nur durch Bakterien und Viren, sondern auch psychische Erkrankungen können infektiös sein. Haben Sie ein riesiges Problem, belastet das auch die Menschen, die Ihnen nahestehen. Diese psychosoziale Pandemie betrifft sehr viel mehr Menschen als die virale Corona-Pandemie. Bei den Corona-Ansteckungszahlen sind wir im Promillebereich, zum Glück. Die psychosoziale Pandemie jedoch betrifft ein Viertel der Bevölkerung, wie unsere Studie zeigt. Und wir stehen erst am Beginn!
Warum hat die Corona-Pandemie solche psychischen Auswirkungen?
Während Menschen kurzfristige, auch massivste Belastungen relativ gut aushalten, können wir mit Dauerbelastungen sehr schlecht umgehen – je länger die Belastung, desto mehr Schädigung zieht sie nach sich. Und wir wissen auch von anderen Krisen, vor allem von wirtschaftlichen, dass es immer eine gewisse Zeit braucht, bis psychische Probleme beginnen. Zu Beginn nehmen wir die Krise nicht ernst, dann kommt eine Phase, in der man glaubt, das schaffen wir schon, doch irgendwann kommt ein Teil der Bevölkerung drauf, das geht sich nimmer aus! Wir wissen das auch durch die Suizidraten, die etwa ein halbes bis ein Jahr nach solchen Krisen nach oben gehen. Das ist auch bei dieser Krise zu erwarten.
Laut Ihrer Studie fühlt sich ein Viertel der Bevölkerung psychisch belastet: Worunter leiden diese Menschen besonders?
Was für uns überraschend war: Der Anteil der Menschen, die wirtschaftlich belastet sind, und jener derer, die psychisch belastet sind, deckt sich nur zum Teil: Es ist, neben den wirtschaftlichen Problemen, vor allem das Umfeld der Maßnahmen, die belasten: Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen, ist einfach keine gute Strategie. Kurzfristig kann man das versuchen, aber langfristig führt das immer zu zwei Effekten.
Welche sind das?
Menschen stehen massiv unter Stress und Stress führt dazu, dass man eher krank wird – in einer Pandemie ist das eine groteske Situation. Zum anderen nehmen Menschen als Kompensationsmechanismus, um mit dem Stress fertig zu werden, die ganze Situation einfach nicht mehr ernst. Das sehen wir ganz deutlich: Obwohl die Bedrohung durch das Virus jetzt größer ist als vor zwei Monaten, werden Regeln nicht ernst genommen. So kommt es zur Maßnahmenmüdigkeit, die eigentlich eine Maßnahmenabwendung ist.
So kommt es auch zur Polarisierung in der Gesellschaft: Jene, die weiterhin in Angst vor dem Virus leben, und jene, die von Corona nichts mehr wissen wollen.
Im Prinzip gibt es drei Wege, mit der Angst umzugehen, zwei davon sind negativ, der dritte ist positiv. Die negativen Umgangsweisen sind, dass man sich entweder abwendet und das Ganze nicht ernst nimmt oder aber, dass man sich immer mehr in die Angst hineinsteigert und in völlige soziale Isolation gerät. Die dritte und richtige Umgangsform wäre, dass man sich ein Stück zurückzieht und überlegt: Was sind die Fakten? Was ist vernünftig, wo kann ich etwas tun, wo muss ich zur Kenntnis nehmen, dass ich es nicht kontrollieren kann? Und dann diese Maßnahmen vernünftig umsetzen.
Was sind Anzeichen dafür, dass man selbst psychisch schon stark belastet ist?
Ein wesentliches Anzeichen ist, wenn man nicht mehr gut schlafen kann: Man wacht zu früh auf, schläft zu kurz, kann nicht mehr durchschlafen. Weitere Warnzeichen sind, wenn einem nichts mehr Freude bereitet und man immer reizbarer wird. Wenn wir überfordert sind, reagieren wir in der Regel mit erhöhter Reizbarkeit. Bemerkt man das an sich oder anderen, sollte man es ansprechen: Es ist wie das Öllamperl beim Auto ein Warnsignal, das Auto ist nicht kaputt, es braucht nur Öl. Was man nicht tun sollte: ein schwarzes Klebeband über das Lamperl kleben. In Österreich ist leider Alkohol – im übertragenen Sinne – oft dieses Klebeband für die Seele. Durch Alkohol entspannt man sich, meint, man hat eh alles im Griff – dabei wird es nur schlimmer.
Was braucht es in dieser Situation stattdessen?
Zwei Dinge sind essenziell: Viel Bewegung – es gibt nichts Besseres für das Nervensystem – und Gespräche mit Menschen, denen man vertraut. Es muss nicht immer ein Therapeut sein: Mit einem Freund, der Partnerin über die Probleme sprechen. Reicht das nicht, empfiehlt es sich durchaus, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das ist kein Zeichen von Schwäche! Eine Krise bedeutet immer Überforderung, wenn wir nicht überfordert sind, ist es auch keine Krise. Da müssen wir uns nicht genieren!