Welche Kollateralschäden verursachte der Corona-Lockdown im Gesundheitswesen? Österreichische Krebsmediziner präsentierten nun erste Zahlen dazu: "Wir haben während des Lockdowns von März bis Mai in der Brustkrebsfrüherkennung um 40 Prozent weniger Mammakarzinome neu diagnostiziert als im Vergleich zum selben Zeitraum im Jahr 2019“, stellte Christian Singer, Leiter des Brustgesundheitszentrums der Medizinischen Universität Wien und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Senologie (ÖGS) fest. Das zeigte eine Studie an 18 österreichischen Zentren.
"Zukünftig unbedingt vermeiden"
„Für manche der Betroffenen ist das dramatisch“, fügte Singer hinzu. „Eine Situation wie wir sie im Corona-Lockdown hatten, wo die Früherkennung ausgesetzt war, gilt es daher künftig unbedingt zu vermeiden“, so Singer weiter. Die Mammografie-Früherkennungsuntersuchung müsse ab sofort wieder uneingeschränkt wahrgenommen werden, appelliert Singer.
"Krebserkrankungen kennen keinen Lockdown"
Politik und Bevölkerung konzentrierten sich in den letzten Monaten stark auf den Umgang mit COVID-19, was dazu führte, dass andere, ebenfalls lebensbedrohliche Erkrankungen in den Hintergrund rückten. „Aber Krebserkrankungen wie Brustkrebs kennen keinen Lockdown“, warnt Singer. „Die radiologischen Einrichtungen sind bestens ausgestattet und geben die höchstmögliche Sicherheit, im Warte- sowie im Untersuchungsraum nicht an Corona zu erkranken. Dasselbe gilt auch für die Ordinationen von Ärztinnen und Ärzten in Österreich und Krankenhäuser im Allgemeinen“, so Singer.
Im März und April wurden 70 bis 80 Prozent weniger Screening-Mammografien durchgeführt – „nicht entdeckt wurden daher vor allem die frühen Krebsstadien, in denen es noch keine Symptome gibt“, sagt Alexandra Resch, Vizepräsidentin der ÖGS, Radiologin und Radioonkologin am Franziskusspital Margareten. „In der Zwischenzeit konnten die Untersuchungen teilweise wieder nachgeholt werden. Wir liegen aber derzeit noch immer zirka 15 Prozent unter den Zahlen des Vorjahres“, so Resch.
Folgeschäden des Lockdowns
Die COVID-19-Pandemie und deren Bekämpfung veränderte den modernen Medizinbetrieb schwerwiegend. „Patienten hatten insbesondere während des Lockdowns einen erschwerten Zugang zu Diagnostik und Therapie von Non-COVID-19-Erkrankungen, wodurch in unserer Beobachtung wichtige medizinische Maßnahmen nur in einem stark reduzierten Umfang möglich waren“, berichtet Dr. Steininger, Facharzt für Innere Medizin und Virologie. „Diese Einschränkungen betrafen nicht nur die Krebsvorsorge und -Therapie, sondern auch die Vorbeugung und Therapie von Infektionserkrankungen“, erklärt Steininger. „Impfungen, die insbesondere für immungeschwächte Krebspatienten wichtig sind, konnten häufig nicht verabreicht werden, beziehungsweise suchten Patienten ihren Arzt oder ihre Ärztin dafür nicht auf“, beklagt Steininger.
„Diese Zahlen sind absolut ernst zu nehmen“, kommentiert Erika Richtig, Präsidentin der steirischen Krebshilfe und Dermatoonkologin an der Med Uni Graz. Ob diese verschobenen Vorsorgeuntersuchungen auch dazu führen, dass Betroffene eine schlechtere Prognose in der Behandlung haben, könne man noch nicht sagen – das würden erst die Krebsregister in einigen Jahren belegen. Aus der eigenen Erfahrung und aus Rückmeldungen von Kollegen weiß Richtig aber: „Nach Aufhebung des Lockdowns haben wir vermehrt größere und dickere Tumore gesehen.“ Und Richtig ortet noch ein weiteres Problem in der Krebsvorsorge: „Schon ohne Lockdown gab es lange Wartezeiten auf Facharzt-Termine – das könnte sich jetzt noch verschlimmert haben.“
Für Paul Sevelda, Präsident der österreichischen Krebshilfe, ist die wichtigste Botschaft nun: „Niemand sollte aufgrund der Angst vor einer Covid-Ansteckung diese wichtigen Vorsorgeuntersuchungen aufschieben.“ In den Ordinationen werde alles getan, um das Infektionsrisiko auf ein Minimum zu senken. Die Verzögerung der Lockdown-Monate in der Diagnose sieht Sevelda, selbst Krebsmediziner, als nicht relevant – wenn die Untersuchungen nachgeholt werden.
Krebs ist aber nur Aspekt im Spektrum der möglichen Kollateralschäden: „Ausgelassene Arztbesuche haben auch dazu geführt, dass Herzinfarkte und Schlaganfälle seltener diagnostiziert wurden, wichtige Kontrollen bei Patienten mit Diabetes, COPD oder Herzinsuffizienz fanden seltener statt“, sagt Florian Stigler, Public-Health-Experte an der Med Uni Graz.
Auch habe die Pandemie mit all ihren Belastungen dazu geführt, dass psychische Symptome gehäuft auftreten. Und: „Längerfristig werden die Wirtschaftskrise und die Schulschließungen nicht nur finanzielle, sondern auch gesundheitliche Auswirkungen haben“, hält Stigler fest.
Strahlentherapie hemmt nicht das Immunsystem
„Eine Strahlentherapie führt nicht dazu, dass das Immunsystem supprimiert wird“, stellt Radiologin Alexandra Resch klar.
„Wichtig ist das, was für alle anderen Bereiche auch gilt: Auch im medizinischen Bereich gilt die Abstandsregel und es besteht Maskenpflicht. Wenn sich jemand krank fühlt, gilt es, gegebenenfalls zuhause zu bleiben, um keine anderen anzustecken“, sagt Resch. „Das sollte aber mit den behandelnden Radioonkologen besprochen werden. In ausgewählten Fällen können auch COVID-19-positive Patientinnen bestrahlt werden, selbstverständlich unter speziellen Sicherheitsbedingungen. Denn auch hier gilt: Die Strahlentherapie von Brustkrebs ist meistens für die betroffene Patientin wichtiger als eine vermutlich nur mild oder asymptomatisch verlaufende COVID-19-Infektion“, erklärt Resch.
Wenn Krebstherapien verzögert durchgeführt werden, steigt das Krebssterberisiko deutlich. Aus diesem Grund ist es wichtig, laufende onkologische Therapien – seien es Chemotherapie, Strahlentherapie, Medikamententherapie, Antihormone – zusammen mit den onkologischen Betreuern und Ärzten weiterhin korrekt durchzuführen.
Einschränkungen in Chirurgie wieder aufgehoben
„Am Höhepunkt der Corona-Pandemie kam es in der chirurgischen Praxis zu großen Einschränkungen. Rekonstruktionen der Brust wurden nur auf Sofortrekonstruktionen beschränkt – also nur, wenn in derselben Sitzung auch der Tumor entfernt wurde“, berichtet Rupert Koller, Vorstandsmitglied der ÖGS, Facharzt für Plastische, Ästhetische und Rekonstruktive Chirurgie und Abteilungsvorstand im Wilhelminenspital sowie in der Krankenanstalt Rudolfsstiftung der Stadt Wien.
Seit Ende des Lockdowns werden sekundäre Rekonstruktionen mit allen Methoden wieder durchgeführt. Ebenso auch prophylaktische Eingriffe – also Operationen, bei denen die Brust entfernt wird, weil ein beispielsweise genetisches Risiko besteht, an Brustkrebs zu erkranken. Eine Rekonstruktionen mit Implantaten oder Eigengewebe findet meistens in derselben Sitzung statt. „Betroffene brauchen sich definitiv nicht zu fürchten, im Spital mit dem Virus angesteckt zu werden. Im Spital sind alle COVID-19-getestet“, sagt Koller. Ein Ansteckungsrisiko sei daher außerhalb des Spitals größer als nach einer Aufnahme im Spital, beruhigt Koller.