Frau Grams, Ihr Buch soll Orientierung im Dschungel der Halbwahrheiten zu medizinischen Themen geben. Teilen Sie den Eindruck, dass dieser Dschungel durch die Pandemie noch dichter geworden ist?
NATALIE GRAMS: Zum einen ist es gut, dass die Gesundheit in den Fokus gerückt ist. Das ist immer wichtig, nicht nur in Pandemie-Zeiten. Die Gefahr aber ist, dass man gerade in Notzeiten an Heilsversprechen glaubt und nach Strohhalmen greift, die einfach nicht halten. Dadurch geht man gesundheitliche Risiken ein, und das ist in einer Pandemie noch schlimmer, denn: Man schädigt sich nicht nur selbst, sondern kann auch andere gefährden, weil man glaubt, durch irgendein Wundermittel geschützt zu sein, sich nicht an die Abstands- und Hygieneregeln hält.
Sie treten auch in sozialen Netzwerken gegen Fake News und falsche Theorien auf: Welche Chance hat man in dieser polarisierten Meinungsschlacht?
Ich denke mir, was würde passieren, wenn keiner etwas dagegenstellen würde? Es ist hart, oft auch sehr emotional, aber es wäre noch schlimmer, wenn niemand die Sachen richtigstellt. Meine Motivation ist auch, dass ich früher allen möglichen Blödsinn geglaubt habe und wenn mir nicht jemand gesagt hätte: Moment, das stimmt ja gar nicht, hätte ich auch nicht umdenken können. Das gibt mir Mut, nicht zu verstummen.
Zu manchen medizinischen Themen sind wahre Glaubenskriege entbrannt, Impfen ist eines davon. Schon jetzt formieren sich Impfgegner gegen eine mögliche Covid-19-Impfung, auf die der Rest der Welt sehnlichst wartet. Warum regt Impfen so auf?
Ich glaube, dass es an zwei Dingen liegt: Einerseits haben viele Menschen aus einer wie auch immer gearteten Frustration das Gefühl, 'denen da oben' kann man sowieso nicht trauen. Wenn von staatlichen Institutionen das Impfen empfohlen wird, macht man es extra nicht, weil man denen da oben kein Vertrauen mehr schenken möchte. Andererseits kommt der Wunsch nach Individualität dazu und man denkt: Ich brauche keine Experten, mein Bauchgefühl sagt: Impfen ist schädlich für mein Kind und ich möchte das individuell entscheiden. Damit maßt man sich aber eine Kompetenz an, die man gar nicht haben kann. Wir machen unsere Steuererklärung ja auch nicht nach Bauchgefühl.
Was steckt hinter Ihrem Wandlungsprozess von der Homöopathin zu deren Kritikerin?
Ich habe an die Homöopathie geglaubt, weil ich selbst eine positive Erfahrung gemacht habe. Ich habe die Homöopathie auch nie hinterfragt, denn für mich war es ja Realität: Ich habe die Globuli genommen und dann ging’s mir besser. Erst als ich verstanden habe, dass viele andere Faktoren für die Verbesserung verantwortlich gewesen sein konnten und ich die wissenschaftliche Datenlage zur Homöopathie kritisch angeschaut habe, habe ich gesehen, dass die Argumente der Homöopathie auf Sand gebaut sind. Mir ist dieser Sand zwischen den Fingern zerronnen und damit auch der Glaube an die Homöopathie. Das war meine persönliche Auf-Klärung.
Die Homöopathie hat eine große Anhängerschaft – wie passt das zu Ihrem Argument, Homöopathie würde nicht wirken?
Viele Menschen verwechseln die Naturheilkunde mit der Homöopathie – dabei ist bei der Homöopathie von der Natur kaum noch etwas drinnen, der Wirkstoff wird rausverdünnt. Wenn man sich vor Augen hält, dass da nachweisbar gar nichts mehr drin ist, stellt man sich die Frage, was da noch wirken soll. Was wirkt, ist der Placebo-Effekt – der entsteht durch die Erwartung, dass etwas wirken könnte. Ich würde niemandem die Homöopathie verbieten – wenn man nach Aufklärung darüber, dass es sich allenfalls um den Placebo-Effekt handeln kann, wenn man die Mittel dann auf eigene Verantwortung und Kosten anwenden möchte, ist das für mich total in Ordnung.
Ihr Buch trägt den Titel „Was wirklich wirkt“ – welche Methoden der sanften Medizin wirken denn?
Für alle Verfahren, die mit Bewegung zu tun haben, wie Yoga, Tai Chi oder Qi Gong gibt es sehr wohl Belege dafür, dass regelmäßige Bewegung und Training positive gesundheitliche Effekte hat. Auch Mittel aus der Naturheilkunde wie Johanniskraut oder Ingwer haben nachweisbar eine Wirkung, ebenso wurde für die Akupunktur, zumindest bei zwei Schmerzdiagnosen der Nachweis erbracht, dass sie besser wirkt als Schmerzmittel. Das Schöne an der Medizin ist, dass es nicht darum geht, etwas per se abzulehnen, sondern zu überprüfen, was wirklich wirkt.
Woran erkennt man denn Scharlatane in der Medizin?
Alles was zu schön klingt, um wahr zu sein, ist meistens auch nicht wahr. Wann immer versprochen wird, dass ein Mittel ohne Nebenwirkungen quasi alles heilt, kann das einfach nicht sein: Alles, was wirkt, kann Nebenwirkungen haben. Oft spielt auch das „Guru-tum“ mit: Es gibt viele Menschen, die von der normalen Medizin so enttäuscht sind, wo sie sich abgefertigt und durchgeschleust fühlen und sich dann wider jede Vernunft an solche Gurus wenden und im Wunsch Hilfe zu erfahren, vieles Rationale ausblenden.
Viele Menschen suchen in alternativen Methoden jene Zuwendungsmedizin, die sie in der sogenannten Schulmedizin nicht mehr erleben. Ist es damit nicht genau die normale Medizin, die Patienten in diese Richtung treibt?
Als Ärzte studieren wir Humanmedizin – wir müssen den humanen Aspekt wieder in die Mitte zurückholen. Sei das durch mehr Zeit, mehr Zuwendung, mehr Empathie. Auf der anderen Seite muss es auch die hoch spezialisierte Notfall-Medizin geben. Mehr Menschlichkeit tut nicht nur den Patienten gut, sondern auch den Menschen, die im Gesundheitssystem arbeiten. Für mich machen zwei Dinge gute Medizin aus: Das ist zum einen die wissenschaftliche Basis, was nachweislich wirkt und zum anderen die ärztliche Heilkunst, der zwischenmenschliche Faktor, durch den eine Komplizenschaft zwischen Patient und Arzt entsteht.