Sie beschäftigen sich als Hirnforscher intensiv mit der Frage, was die Persönlichkeit und das Verhalten eines Menschen bestimmt. Ihr Buch zu dem Thema hat den Titel „Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern“ und zeigt auf eindrucksvolle Weise auf, wie faktisch alles, was wir sind, in unserem Gehirn angelegt ist. Wir sind gewissermaßen vorprogrammiert. Die Chance auf einen Reset sind minimal?
GERHARD ROTH:Minimal würde ich nicht sagen. Es sind drei ganz wichtige Faktoren, die eine Veränderung ermöglichen. Der erste Faktor ist der Leidensdruck, der groß genug sein muss. Der zweite Faktor ist eine Belohnungserwartung hinsichtlich der Veränderung. Das Gehirn fragt sich bei genügend großem Leidensdruck, was es von einer Veränderung hat. Und der dritte Faktor ist die Geduld.
Schlagartig wird also niemand ein anderer Mensch – auch nicht durch Erschütterungen, wie sie gerade die Coronakrise weltweit ausgelöst hat?
ROTH: Nein, je tiefer wir Veränderungen vornehmen wollen, desto sorgfältiger, geduldiger und längerfristiger müssen wir vorgehen. Bei Änderungen unseres Verhaltens sind sogenannte Basalganglien in unserem Gehirn involviert, das sind Strukturen die sich bei der Ausbildung von Fertigkeiten und Gewohnheiten, beispielsweise beim Klavierspielen verändern. Wer noch nie Klavier gespielt hat, kann auch nicht davon ausgehen, morgen gleich Beethoven spielen zu können. Wie kann man also von einem Menschen verlangen, von heute auf morgen sein Verhalten umzustellen?
Sie sagen, unsere Gehirnstruktur bestimmt über unsere Persönlichkeit?
ROTH: Jein. Alles, was wir denken, fühlen und tun ist zwar in unserer Hirnstruktur abgebildet, aber die eigentlichen Ursachen für unsere Persönlichkeit gehen weit über das Gehirn hinaus. Es gibt 5 Faktoren, die uns bestimmen und die wir zum Teil auch gar nicht verändern können. Das sind unsere Gene, dann bestimmte genetische Kontrollmechanismen, die man Epigene nennt, weiters vorgeburtliche Einflüsse durch das Gehirn und den Körper unserer werdenden Mutter, dann nach der Geburt die ersten prägenden Jahre und schließlich alles, was man später erlebt. Alles, was aus der Umwelt auf uns einwirkt, vorgeburtlich und danach, muss sich im Gehirn manifestieren. Wenn es das nicht tut, kann es nicht wirksam werden. Man kann aber nicht sagen, das Gehirn sei der oberste Kommandeur, es steuere alles. Das Gehirn wird auch durch Umwelteinflüsse der ersten Lebensjahre massiv geprägt.
Anlage oder Umwelt, was bestimmt uns nun mehr? Was sagt der Hirnforscher?
ROTH: Es ist eine Kombination von beidem. Es ist sowohl die genetische Prädisposition, als auch die Einwirkung traumatisierender, prägender, frühkindlicher Erfahrungen. Diesbezüglich kann die Hirnforschung den Psychologen sagen, dass sie recht haben. Die wirksamste Psychotherapie ist demnach eine, die den Einfluss der ersten Lebensjahre miteinzubeziehen versucht.
Kann es einem jemals gelingen, sich selbst zu verstehen?
ROTH: Nein, das beweisen alle Untersuchungen ernsthafter Art, in denen Psychologen versuchen, Menschen zu beschreiben und das dann mit dem vergleichen, was diese Menschen selbst über sich sagen. Diese ungeheure Diskrepanz, wie ein Mensch sich selbst sieht und was er tatsächlich tut, wird in unzähligen Lehrbüchern beschrieben. Der kluge Therapeut weiß, dass das, was ein Patient über sich selbst erzählt, immer mit Vorsicht zu genießen ist.
Gibt es einen Schlüssel zur Steigerung der eigenen Zufriedenheit im Leben?
ROTH: Nein, alle sozialpsychologischen Untersuchungen zeigen, dass der Mensch schon mit 3 oder 4 Jahren entweder ein eher zufriedener oder ein eher unzufriedener Mensch ist. Da lässt sich später nicht viel ändern.
Vorbilder helfen da auch nicht weiter?
ROTH: Doch, aber nur in Grenzen. Vorbilder können Leuten helfen, die gewissermaßen an der Kippe sind, die weder richtige Pessimisten noch Optimisten sind. Immer, wenn es Schwankungsbreiten gibt, kann ich lernen, Vorbilder annehmen, und von Coaches profitieren.
Die richtigen Entscheidungen für das eigene Leben treffen zu können, indem man guten Rat annimmt, ist keine Intelligenzfrage?
ROTH: In gewissem Sinne schon. Nehmen wir etwa jemanden, der sich scheiden lassen will, aber das Haus ist nicht abbezahlt, er hat 3 Kinder und einen unsicheren Arbeitsplatz. Da kann man zwar sagen: „Bitte, überleg dir das“. Aber ich habe selbst schon erlebt, dass man mit Freunden die ganze Nacht durchdiskutieren kann, und sie machen dann genau das, was sie vorher schon wollten. Intelligenter Rat - auch von sich selber - ist nur nützlich, solange man noch nicht emotional festgelegt ist. Auch die klügsten Argumente helfen nicht, wenn sich jemand unbewusst emotional schon entschieden hat.
Was ist von sogenannten Bauchentscheidungen zu halten?
ROTH: Bauchentscheidungen – und ich rede dabei nicht von Intuition - treten dann auf, wenn der Stress sehr groß ist. Das Gehirn schaltet unter dem Einfluss sehr starker Stresshormone auf Steinzeitreaktionen zurück: Das sind Angriff, Verteidigung, Erstarren, Fliehen oder man tut etwas Merkwürdigen, setzt also eine sogenannte Übersprungshandlung. Dann rasen Leute zum Beispiel in den Supermarkt und kaufen massenweise Toilettenpapier, Zucker oder Nudeln. Das ist völlig unsinnig, aber für den Verhaltensforscher oder Neurobiologen als Entlastungshandlung gut erklärbar. Also muss man Stress in komplexen Situationen reduzieren, damit unser Verstand noch eine Chance hat - der wird nämlich brutal abgeschaltet durch die Stresshormone. Und schnelle, impulsive Reaktionen sind so gut wie immer falsch. In der Steinzeit waren sie richtig, heute nicht mehr.
Gleichzeitig brechen Sie aber eine Lanze für die Intuition.
ROTH: Genau. Man darf intuitive Entscheidungen keinesfalls mit Bauchentscheidungen verwechseln. Intuitive Entscheidungen sind nicht stark emotional, und sie sind gefragt, wenn die Dinge komplex werden. Mit Logik und Sachverstand kann man ja nur wenige Dinge durchdenken. So riesige Probleme, wie wir sie in der aktuellen Krise haben, können gedanklich nicht mehr Schritt für Schritt durchdacht werden, weil es viel zu viele sind. Also diskutiert man das alles einmal an, versucht die Alternativen zu reduzieren, dann lässt man es sacken. In dieser Zwischenzeit ist das Problem in unserem Langzeitgedächtnis, das unser gesamtes Erfahrungsgedächtnis ist. Hier kann man die Probleme intuitiv, also im Lichte unserer gesamten Erfahrung bearbeiten. So kommt man zu einer viel besseren Lösung. Das kann die Neurowissenschaft gut erklären.
Will man andere dazu bringen, sich zu ändern, wird oft mit Angst und Schrecken gearbeitet, auch in der aktuellen Coronakrise. Nachhaltige Effekte erzielt man aber nur mit Belohnungen?
ROTH: Mit der Bedrohung erreicht man eine schnelle Verhaltensänderung, das hat aber den Nachteil, dass sie bei manchen häufig in Protest umschlägt. Das vermeidet man nur, wenn man eine Belohnung in Aussicht stellt. Neurobiologisch betrachtet schüttet das Hirn bei einer Belohnung Opioide aus. Das passiert beim Sex und bei gutem Essen und Trinken, aber auch ganz stark beim Erlebnis von Gemeinschaft und Bindung, wenn Freunde und Partner zusammen sind, in der Natur, bei Lob und wenn man Spaß an einer Sache hat. Auf dieser Klaviatur müssen Sie als Veränderer virtuos spielen und herausbekommen, welche Belohnung für wen sinnvoll ist: Rotwein, Lob, Anerkennung oder die Erlaubnis etwas zu tun, woran der andere einfach Spaß hat.