Obwohl die spinale Muskelatrophie, kurz SMA, zu den seltenen Erkrankungen zählt, ist sie laut Günther Bernert, Präsident der österreichischen Muskelforschung, gar nicht so selten: „SMA ist die zweithäufigste der genetisch bedingten Muskelerkrankungen. Das hat damit zu tun, dass es viele Menschen gibt, die diese Erkrankung übertragen können. Bekommen zwei solcher Menschen ein Kind, liegt das Risiko bei 25 Prozent, dass das Kind erkrankt.“ In Österreich kommen pro Jahr etwa elf Kinder mit SMA zur Welt – davon wiederum haben etwa sechs Kinder die schwerste Form der Erkrankung.
Den Betroffenen fehlt ein wichtiges Protein – dadurch gehen jene Nerven zugrunde, die notwendig sind, um die Muskeln des Körpers steuern zu können. Muskeln, die sich nicht bewegen, werden abgebaut: Zuerst macht sich die Erkrankung in jenen Muskeln bemerkbar, die nahe am Rumpf sind – doch im weiteren Verlauf sind alle Muskeln des Körpers betroffen. Das beeinträchtigt auch lebenswichtige Funktionen wie die Atmung und die Nahrungsaufnahme. Kinder, die von der schweren Form SMA 1 betroffen sind, erlernen laut Definition nie das Sitzen oder Laufen und versterben ohne Therapie in den ersten zwei Lebensjahren.
Bereits seit einigen Jahren gibt es aufwendige medikamentöse Therapien, die lebenslang erfolgen müssen und in regelmäßigen Abständen Injektionen in den Rückenmarkskanal erforderlich machen - Spinraza heißt diese Therapie, die bereits eine erste Revolution in der Behandlung darstellte.
Neue Gentherapie nun auch in Österreich
Doch seit kurzem gibt es eine Gentherapie, die im Mai für Europa zugelassen wurde und nun auch in Österreich zum Einsatz kommt: An der Salzburger Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde ist nun erstmals in Österreich ein Baby mit dieser Gentherapie namens Zolgensma gegen die Spinale Muskelatrophie behandelt worden. Es handelt sich um ein vier Monate altes Mädchen.
„Dem vier Monate alten Säugling geht es gut. Wir konnten relativ früh behandeln. Die SMA-Diagnose wurde in der zweiten Maihälfte gestellt, da der Kinderarzt verminderte, nicht altersgerechte Kindsbewegungen feststellte und den Säugling rasch an unsere Abteilung überwies“, so der behandelnde Arzt Christian Rauscher, leitender Oberarzt der Neuropädiatrie an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde Salzburg. "Bei der kleinen Patientin wurde bei der Mutter-Kind-Pass-Untersuchung eine herabgesetzte Muskelspannung erkannt."
Binnen zwei Tagen erfolgte bereits die Untersuchung mit der genetischen Diagnose der Erkrankung. Binnen drei Wochen erfolgte dann die Therapie. "Das Kind hat 30 Minuten der einstündigen Infusion verschlafen und war die anderen 30 Minuten wach. Wir werden das Baby noch einige Tage im Krankenhaus behalten." Dann werde das Kind aus dem Spital entlassen. In rund vier Wochen sollte im Rahmen der Nachuntersuchungen der Effekt zu bemerken sein.
Diese Therapie ersetzt die Funktion des defekten Gens – es ist eine Gentherapie, die in die betroffenen Zellen eingeschleust wird. Laut Angaben des Herstellers Avexis muss die Therapie auch nur einmalig verabreicht werden. Und im Unterschied zu Spinraza kann das Medikament als Infusion gegeben werden, eine Injektion in den Rückenmarkskanal ist nicht notwendig.
"Die neue Therapie birgt große Vorteile. Sie setzt direkt an dem Gendefekt an. Die Behandlung erfolgt einmalig. Der dritte Vorteil ist der Zugang durch eine intravenöse Infusion", sagt Günther Bernert.
"Bisher wurden in Studien weltweit bereits 100 Patienten behandelt", sagte Hardo Fischer, für Österreich zuständiger regionaler medizinischer Direktor der Hersteller-Firma Avexis. Alle Studiendaten sprächen für große Erfolge. "Keines der Kinder hat motorische Fähigkeiten verloren."
„Entscheidend ist, dass die Therapie so früh wie möglich beginnt“, unterstreicht Barbara Plecko, Leiterin der Abteilung für Allgemeine Pädiatrie am LKH-Uniklinikum Graz und Kinderneurologin. Einmal verlorene Motoneuronen und damit aufgetretene Behinderung lassen sich nicht mehr rückgängig machen. Deshalb fordern die Experten auch, dass die Muskelkrankheit SMA in das Neugeborenen-Screening aufgenommen wird: Dadurch würde jedes Kind gleich nach der Geburt auf diesen genetischen Defekt hin untersucht werden und könnte dann, bei Diagnose einer SMA, noch vor Auftreten der ersten Symptome behandelt werden. Bernert hofft, dass SMA schon im nächsten Jahr Teil des Neugeborenen-Screenings wird.
Für Aufsehen sorgte der Preis des Medikaments: Die Kosten betragen pro Patient 1,945 Millionen Euro. Damit ist Zolgensma die teuerste Einzeldosis eines Medikaments, die es je gab. Die Hersteller rechtfertigen das damit, dass es sich um eine Einmaltherapie handle und ein Leben lang wirke. Die Firma zieht auch den Vergleich zur verfügbaren Therapie mit Spinraza, die im ersten Jahr sechsmal und in den Folgejahren dreimal jährlich verabreicht werden muss: Die Einmaltherapie entspreche den Kosten von etwa fünf bis sieben Jahren Spinraza-Therapie.
"Wir haben bereits die Kostenübernahme mit zwei großen (Krankenhaus-)Trägern unter Dach und Fach gebracht", erklärte Elisabeth Kukovetz, Avexis-Managerin für Österreich. Dies seien derzeit die Salzburger Landeskrankenanstalten und der Wiener Gesundheitsverbund (vormals KAV). Gespräche gebe es aber auch bereits mit Oberösterreich und der Steiermark. Das Finanzierungsmodell basiert derzeit auf Ratenzahlungen über sechs Jahre hinweg.
Ist so ein Preis zu rechtfertigen? „Diese Firmen sind börsennotiert und wollen Geld verdienen“, sagt Bernert – noch dazu, wo Firmen nie wissen, wie lange es dauert, bis ein Konkurrenzprodukt auf den Markt kommt. „Ich finde die Kosten exorbitant hoch, aber ich finde auch Kosten etlicher anderer Medikamente extrem hoch“, sagt Bernert. Aus seiner Sicht brauche es eine zentrale Behörde, die angemessene Medikamentenpreise für die ganze EU verhandelt.
"Unethisch": Gratis-Gaben wurden verlost
Weltweite Diskussionen gab es auch deshalb, da der Hersteller Avexis ein Härtefallprogramm gestartet hatte, um die Wartezeit auf die Zulassung außerhalb der USA zu überbrücken: Hundert Dosen pro Jahr werden betroffenen Kindern weltweit gratis zur Verfügung gestellt. Die Auswahl der Kinder beruhe auf einem dreistufigen Verfahren, das Fairness und medizinische Notwendigkeit einbeziehen soll, so die Hersteller, die auch mit einer beschränkten Produktionskapazität argumentieren.
Experten lehnen ein solches Vorgehen entschieden ab: „Die Vergabekriterien sind völlig intransparent, ich finde das unethisch“, sagt Bernert. Der Experte sieht darin eine Marketing-Maßnahme. Und auch Plecko unterstreicht: „In Fachkreisen wird das abgelehnt – wegen des Lotterie-Charakters und des Bruchteils der Patienten, die dabei zum Zug kommen.“