Herr Professor Gartlehner, man spricht vom ersten großen wissenschaftlichen Skandal der Covid-19-Pandemie, der sich nun rund um das von Donald Trump so beworbene Malaria-Mittel Hydroxychloroquin und zwei hoch angesehen medizinische Fachzeitschriften entwickelt hat. Was genau ist passiert?
Gerald Gartlehner: Es geht um zwei Studien, die in den zwei hochkarätigen medizinischen Fachmagazinen erschienen sind, The Lancet und The New England Journal of Medicine. Beide Studien haben Fragen zu Covid-19 beantwortet, die bis dato offen waren. Zum einen die Frage, ob die Einnahme von speziellen Blutdruckmitteln, sogenannten ACE-Hemmern, das Risiko für eine schwere Covid-19-Erkrankung erhöhen kann. Die Antwort war: Nein, tun sie nicht. Zum anderen die Frage, ob das Malaria-Mittel Hydroxychloroquin in der Therapie von Covid-19 wirkt. Hier lautete das Ergebnis, dass es nicht nur wirkungslos ist, sondern sogar die Todesraten erhöhe.
Die zweite Studie hatte ja auch weitreichende Konsequenzen in der Praxis.
Genau, Studien mit Hydroxychloroquin wurden weltweit gestoppt, auch jene, die von der Weltgesundheitsorganisation gestartet worden war – es schien ethisch nicht vertretbar, Patienten weiterhin damit zu behandeln.
Doch dann wurden Zweifel laut.
Ja, andere Forscher, die die Studie lasen, stellten fest, dass die Zahlen, mit denen die Analysen durchgeführt wurden, einfach nicht passten. Die Kritik wurde immer lauter, auch der britische 'Guardian' recherchierte intensiv zu jener Firma, Surgisphere, die den Datensatz zur Verfügung gestellt hatte. Die Firma wollte weder die Krankenhäuser nennen, aus denen die Daten stammten, noch wollten sie die Daten verifizieren lassen. Das führte dazu, dass die beteiligten Forscher und die Fachmagazine die Studie zurückzogen.
In der Coronapandemie wird so viel und so schnell publiziert wie noch nie zuvor – sehen wir nun die Schattenseite dieses Wettrennens nach Wissen?
Die Frage, die sich jetzt natürlich stellt. ist: Ist das nur die Spitze des Eisbergs? Momentan wird alles sehr schnell publiziert – denn es gibt so viele Wissenslücken zum neuartigen Virus und es braucht schnelle Antworten. Dadurch geht im wissenschaftlichen Prozess aber auch viel an Sorgfalt verloren. Und es gibt auch Glücksritter, die daraus Kapital schlagen wollen.
Wie konnte das passieren? Immerhin waren die Studien bereits peer-reviewed, das heißt, von anderen Forscher gelesen und begutachtet worden.
Dass dieser Peer-Review-Prozess nicht gut funktioniert, ist schon lange bekannt. Der wohl bekannteste Fall ist der Anästhesist Scott S. Reuben, der über 20 Jahre hinweg mehr als 20 Studien gefälscht hat, über lange Zeit unentdeckt geblieben und schließlich nur durch Zufall aufgeflogen ist. Doch solche Fälschungen zu finden, ist für den Reviewer auch extrem schwierig: Die Begutachtung machen Wissenschaftler in ihrer Freizeit und unentgeltlich, man hat dafür vielleicht zwei, drei Stunden Zeit und es ist unmöglich, in dieser Zeit den gesamten Datensatz zu prüfen. Bei der Hydroxychloroquin-Studie handelte es sich immerhin um 96.000 Patientendaten. Das ist eine Schwäche des Systems, viele Forscher lehnen es auch ab, da sie einfach nicht die Zeit dafür haben.
Doch auch die Autoren selbst, die mit diesen wohl falschen Daten gearbeitet haben, sind renommierte Forscher, arbeiten an der Harvard-Universität und am Klinikum Zürich – was ist Ihnen vorzuwerfen?
Es herrscht natürlich ein irrsinniger Publikationsdruck: Entweder man veröffentlicht oder man geht unter, heißt es. Die Firma Surgisphere ist wohl mit ihren Daten an die Wissenschaftler herangetreten und hat angeboten, damit zu arbeiten – sie hätten die Daten prüfen müssen, doch das passiert sehr selten. Was mir aber noch unklar ist: Was war die Motivation der Firma, mangelhafte Daten anzubieten? Ein finanzieller Anreiz ist nicht zu erkennen, es besteht also die Möglichkeit, dass hinter diesem Skandal keine dunklen Absichten steckten, sondern einfach schlampige Arbeit. Die Firma gibt an, mit maschinellem Lernen zu arbeiten – dabei kann passieren, dass die Daten gut aussehen, aber sich Fehler einschleichen.
Trump hatte das Medikament Hydroxychloroquin schon früh als Wundermittel angepriesen – welche Rolle kann dieser Faktor Öffentlichkeit gespielt haben?
Kollegen aus Basel haben alle Studien ausgewertet, die bisher zu Covid-19-Therapien veröffentlicht wurden oder durchgeführt werden – am allermeisten wurde zu Hydroxychloroquin geforscht. Und das ist nur auf Präsident Trump und seine Aussagen zurückzuführen. Ob es auch darum ging zu zeigen, dass Trump falsch liegt – darüber kann nur spekuliert werden. Ein gewisser Opportunismus spielt sicher mit und es zeigt, wie sehr auch Wissenschaft von Politik und Medien getrieben wird.
Was bedeutet das nun alles für die Grundfrage: Wirkt Hydroxychloroquin gegen Covid-19?
Das werden weitere Studien zeigen müssen. Es könnte gut sein, dass die Aussage der Studie eigentlich richtig ist. Eine Zwischenauswertung der WHO-Studie zeigte aber, dass es keine erhöhte Sterblichkeit durch das Mittel gab.
Und was wäre die schwerwiegendste Folge dieser falschen Studie?
Es wurden Studien abgebrochen, Behandlungen gestoppt – die schlimmste Konsequenz wäre, dass Patienten ein Medikament vorenthalten wurde, dass ihnen vielleicht geholfen hätte.
Was sollte der Wissenschaftsbetrieb daraus lernen?
Leider passieren solche Fehler, ganz ausschließen wird man das nie können. Es gibt verschiedene Ansätze, wie man den Peer-Review-Prozess verbessern könnte: Es könnte die Schwarmintelligenz genutzt werden: Eine Studie wird nicht nur an zwei, drei Forscher geschickt, sondern ins Internet gestellt und die ganze Welt kann sie lesen und kommentieren. Das wäre ein viel besserer Kontrollprozess. Doch momentan, in der Pandemie ist es einfach notwendig, schnell Antworten zu liefern. Wir müssen Abkürzungen nehmen.