Der Psychiater Dietmar Bayer hat in den vergangenen Wochen furchtbare Dinge erlebt, unter anderem mit Patienten, an die nur selten jemand denkt: chronisch psychisch kranke Menschen in betreuten Wohneinheiten. „Da war zum Beispiel ein mehrfach behinderter Mann, der die Bilder von maskierten Menschen, gestapelten Särgen und Militärfahrzeugen, die zu Beginn der Krise dauernd im Fernsehen gezeigt wurden, paranoid zu verarbeiten begann und in seiner Krankheit überzeugt war, er und seine Mutter müssten sterben“, erzählt der Facharzt, „Er hat versucht, sich das Leben zu nehmen, zum Glück fand ihn der Betreuer, der einmal in der Woche bei ihm vorbeikommt, noch rechtzeitig und brachte ihn in die Klinik“, sagt Bayer. Was man bei psychisch chronisch Kranken in betreuten Einrichtungen generell meist vergesse: „Ist das Zusammenleben innerhalb einer Familie häufig schon schwierig, sind die Spannungen in einem Heim oder einer Wohngemeinschaft noch viel größer.“ Coronabedingt geschlossene Tagesstätten und Betreuungseinrichtungen und dadurch überforderte betreuende Angehörige hätten die Situation zusätzlich verschärft.
Was man für zukünftige Krisen daraus lernen kann? „Meine erste Idee wären mobile Betreuungsteams, die Familien mit psychisch Kranken entlasten“, denkt Bayer an eine sozialpsychiatrische Lösung, über deren Finanzierung man sich freilich auch erst Gedanken machen müsste.
Generell hatten Bayer und seine Berufskollegen in den vergangenen Wochen mehr suizidale Krisenpatienten. Genaue Zahlen könne man jetzt zwar noch nicht nennen, wie Bayer betont, die würden sich erst am Jahresende in den Daten der Gesundheitskasse zeigen - in den Abrechnungen für Kriseninterventionen. Aber die Empirie weist laut Bayer eindeutig auf coronabedingte Kollateralschäden in der Psychiatrie hin: „Wir konnten in den vergangenen Wochen mit unserem medizinischen Notbetrieb nicht verhindern, dass ein Maniker, der gut eingestellt ist, plötzlich in die Manie rutscht oder ein Angstpatient suizidale Ideen entwickelt.“ Es gebe seit März einen großen Stau an Patienten, die dringend abgefangen werden müssen, sich aber noch immer nicht in die Arztpraxen trauen, weil sie die Botschaft „Gehen Sie nicht hinaus“ völlig verinnerlicht haben. De facto kommen derzeit also weniger Patienten zum Psychiater als vor Corona, dabei hat die Krise krankhafte Ängste und Depressionen sicher befördert.
„Wir werden in Zukunft sicher mehr Covid-19-bezogene Fälle von Angst, Depressionen, häuslicher Gewalt und Anpassungsstörungen erleben“, ist Bayers Prognose. Ein Beispiel für eine Anpassungsstörung: „Nehmen wir etwa eine alleinerziehende Mutter im Home-Office mit zwei schulpflichtigen Kindern, die jetzt wochenlang in einer engen Wohnung für Mahlzeiten, Homeschooling, und Freizeitgestaltung sorgen musste. Das ist eine immense Belastung, die man vielleicht zwei Wochen aushält, dann wird es kritisch - etwa mit Schlafstörungen, Antriebsmangel, Gereiztheit, vermehrter Grübelneigung und Stimmungstief. Das sieht man jetzt vermehrt. Diese Frau wäre ohne Pandemie wahrscheinlich nie psychisch krank geworden.“
Die viel gepriesene Telemedizinbzw. der Kontakt zum Patienten über multimediale Kanäle erwies sich in Corona-Zeiten nur bedingt als tauglich. „Einerseits ist die Technik das Problem. Viele haben weder Smartphone noch Computer oder gutes Internet. Andererseits kann man jemanden, der einem am Telefon verloren geht, nicht dazu überreden, noch einmal abzuheben. Im direkten Gespräch in der Praxis merkt man hingegen schnell, wenn ein Gespräch in die falsche Richtung läuft und kann den Patienten mit Empathie und Freundlichkeit abfangen.“
Patienten haben Therapien unterbrochen
Eine ähnliche Beobachtung hat die Vizepräsidentin des Berufsverbandes der österreichischen Psychologen, Marion Kronberger, gemacht: „Psychisch Kranke brauchen viel Sicherheit und Halt, das war online schwierig. Ein Beziehungsaufbau ist ohne persönlichen Kontakt viel schwerer möglich.“ Laufende Therapien seien folglich in den meisten Fällen von den Patientinnen ausgehend ausgesetzt worden. Der Kollateralschaden aus Sicht der klinischen Psychologin: „Bis zur Corona-Krise hatten wir die Sicherheit, dass wir psychologische Therapien verlässlich aufrechterhalten können. Und auf einmal kam da von außen etwas, das die Behandlungsprozesse unterbrochen hat. Und Patienten, die ohnehin knappe Ressourcen haben - psychisch und finanziell - sind in eine starke Unsicherheit gefallen. Es wird es uns lange beschäftigen, neue Formen des Kontakts unter Einhaltung der geforderten Distanz aufzubauen.“
Wie stark die Krise bereits vor Corona bestehende Ängste und Depressionen befördert und durch die Verunsicherung neue hervorgebracht hat, werde sich freilich erst in den kommenden Wochen zeigen, wenn sich die Gesellschaft wieder dem alten Tempo annähert. Kronberger: „Ganz zu Beginn der Covid-Maßnahmen waren viele Angst- und Depressionspatienten erleichtert und entlastet, weil in der Krise viele Aktivitäten gar nicht mehr möglich waren, das ganze Sozialleben zum Erliegen kam und ihre eigene Problematik dadurch nicht mehr aufgefallen ist. Vorübergehend war man wieder Teil einer großen Gruppe. Jetzt spüren viele umso stärker, dass sie nicht mithalten können und zurückbleiben.“