Die Erhöhung der gesunden Lebenserwartung und das Verhindern eines Verlusts an gesunden Lebensjahren ist ein Leitgedanke der Gesundheitspolitik. Die angesichts der Coronakrise gesetzten Maßnahmen greifen für gewisse Zeit nicht nur tief ins Alltagsleben, sondern auch in das Gesundheitsverhalten und die -versorgung ein. Wie das ausgeht, sei offen, so der Grazer Public Health-Experte Martin Sprenger.
Das Ziel in den kommenden Monaten muss es sein, den gesundheitlichen, psychischen, sozialen und ökonomischen Schaden durch den Coronavirusausbruch zu minimieren. Das sollte möglichst gleichzeitig mit einer geringen Anzahl an Covid-19-Sterbefällen, dem möglichst geringem Verlust an gesunden Lebensjahren und Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Krankenversorgung einhergehen.
Die Wahrscheinlichkeit vor Erreichen der eigentlichen Lebenserwartung am neuen Coronavirus zu versterben, hängt vom Geschlecht, vom Lebensstil (etwa Rauchen, Ernährung oder Bewegung), vom sozio-ökonomischen Status sowie in hohem Maße vom Alter und der Anzahl und Schwere chronischer Krankheiten, wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, COPD oder Krebserkrankung ab. Die gesetzten Maßnahmen zur Reduktion der sozialen Kontakte und zum Schutz des Gesundheitssystems vor Überlastung durch Covid-19-Patienten sind jedenfalls in der gesamten Gesellschaft spürbar.
Sie wirken sich auf die Psyche, das Zusammenleben, die wirtschaftliche Sicherheit und nicht zuletzt auch auf die gesundheitliche Situation Nicht-Erkrankter aus, wenn etwa Arztpraxen geschlossen oder nicht unmittelbar notwendige Operationen verschoben werden. Die Frage sei nun auch: "Wie viele gesunde Lebensjahre gehen durch Covid-19 gerade verloren?", so Sprenger im Gespräch mit der APA. Da vor allem ältere Menschen mit Vorerkrankungen das höchste Sterberisiko haben, halte sich der Effekt zumindest bisher vermutlich in Grenzen.
"Interessanter ist jetzt die Frage, wie viele gesunde Lebensjahre durch eine Regelversorgung im 'Covid-19-Modus' verloren gehen und wie viel Schaden hier gerade entsteht. Momentan läuft das aber unter dem Radar", sagte Sprenger. Um hier Licht ins Dunkel zu bringen, beschäftigen sich der Forscher und Kollegen derzeit mit dem Sammeln von "teilweise dramatischen" Fallgeschichten, wo Veränderungen in der Versorgung von akuten und chronischen Erkrankungen zum Teil große Auswirkungen hatten.
Der Grund liegt unter anderem bei den strikteren Aufnahmekriterien von Krankenhäusern, der erschwerten Zugänglichkeit von Fachärzten (vor allem im Bereich der bildgebenden Verfahren), der Distanzierung von Ärzten und Patienten und dem erschwerten Zugang zu Therapeuten. Wie viele Österreicher nun mit Unter- und Fehlversorgung konfrontiert sind, wäre wichtig herauszufinden, so der Forscher von der Medizinischen Universität Graz. Auch eine steigende Arbeitslosigkeit hat bekanntermaßen negative gesundheitliche Auswirkungen.
Diese Effekte würden voraussichtlich durch wenige positive Veränderungen, wie etwa der leicht reduzierten Luftverschmutzung, nicht ausgeglichen, so der Grazer Experte. "Um überhaupt in den Diskurs einzusteigen", bräuchten Wissenschafter, etwa aus den Bereichen Demographie, Soziologie, Ökonomie und Gesundheitswissenschaften jedoch die notwendigen Daten.
Österreich müsse laut Sprenger rasch auch ein wissensbasiertes Risikomanagement etablieren, das den drohenden Verlust von gesunden Lebensjahren mit im Auge behält. "Dazu braucht es aber vor allem eine ständig anzupassende transparente und der Bevölkerung verständlich kommunizierte Exit-Strategie für die nächsten Monate", schreibt der Wissenschafter in einer Analyse.